TEILEN

Im Dezember 1879 geschahen drei Dinge an drei Orten. Sie
führten  drei  sehr  verschiedene  Menschen  in  der  Mitte  der
Eifel  zusammen.  Dass  ich,  Mathilda  Blum,  diese  Geschichte
aufschreiben kann, verdanke ich drei schlagartig veränderten
Leben — und einem merkwürdigen Jungen.
Die  Ernte  zu  Hause  in  Weyerbach  war  nicht  nur  dürftig,  auch
beim Einlagern war das Wetter ungnädig gewesen. Der Winter
würde lang und hart werden. Es fror schon seit Wochen. Wenn es
schlecht lief, drohte uns und vielen anderen Familien ein wahrer
Hungerwinter, obwohl wir teilen würden, was jeder zu geben hat-
te. Die kleinen Felder auf den Hängen der Nordeifel warfen nicht
genug ab, wie so oft. Vater würde Vieh schlachten müssen. Und
da ich die älteste Tochter war, beschlossen meine Eltern, dass ich
dringend Geld verdienen müsste, um uns alle, sieben insgesamt,
zu unterstützen. Ich hatte eine Riesenangst, aber durfte natürlich
nicht widersprechen. Nur der Gedanke an unseren kleinen Jakob,
der noch nicht einmal laufen konnte und ständig kränkelte, über-
zeugte mich. Es war nötig. Sie brauchten mich. Wie konnte ich
ablehnen?
Wenn ich mich geschickt anstellte, könnte ich mich als Magd ver-
dingen und Geld heimschicken. Die Gesindemärkte in den grö-
ßeren, südlichen Städten waren immer Anfang Dezember, und so
war der Zeitpunkt günstig. Ich musste dorthin.
Also lud Vaters Freund Hans mich vor unserem Haus auf
seinen  Pferdewagen,  wie  zuvor  seine  Wolltücher.  Er  wollte  nach
Adenau zum Markt, eine endlose Reise über holprige Wege, aus
den Tiefen der Eifel südwärts über die Ahr. Zuerst lehnte ich mich
noch  gemütlich  zwischen  die  Deckenstapel  und  genoss  die  un-
gewohnte Fahrt durch neue Landschaften. Später, gegen Abend,
gewann aber immer mehr die Angst die Oberhand.
Wir  schliefen  bei  Zingsheim  in  einem  Gasthaus  und  erreichten
Adenau am folgenden Mittag. Hans lud mich am Stadtrand mit
seinen  Ballen  ab  und  zeigte  mir  die  Richtung  zum  Marktplatz.
Kaum setzte ich die Füße auf festen Boden, wurde ich fast von ei-
ner Kolonne aus Fuhrwerken mitgerissen. Einige wurden von Rin-
dern gezogen, die meisten jedoch von Pferden. Pferde hatte bei
uns im Dorf nur einer. Ich klopfte den Dreck vom Kleid und folgte
dem Wagenzug, ohne Hans noch einmal anzusehen. Er hätte die
Panik in meinen Augen gesehen, und das war nicht, was er meinen
Eltern daheim berichten sollte.
Ich duckte mich vor den hohen, sich scheinbar über mich lehnen-
den Häusern, den engen, lauten und so vollen Straßen, den Gerüchen, die ich nicht einordnen konnte. Im Gegensatz zu Weyerbach
war  Adenau  überwältigend.  Ich  wurde  vom  Chaos  verschluckt,
aber fand so den vom Markttreiben surrenden Hauptplatz.
Ich wusste nicht, wohin ich zuerst schauen sollte, und versuchte
zu erkennen, welcher Ordnung alles folgte. Wo die Marktstände
eine Lücke ließen, standen Dutzende junge Burschen und Mäd-
chen wartend herum. Sie sahen genauso nervös aus, wie ich mich
fühlte. Das musste es sein! Ich schlich mich an und reihte mich
demütig  bei  ihnen  ein.  Sie  froren  genauso  —  und  waren  zum
selben Zweck hier. Der heutige Dingtag war eiskalt und windig,
aber unsere Chance: Knechte und Mägde aus der weiten Umge-
bung konnten einen neuen Brotgeber finden. Wir warteten. Ich
versuchte  die  Mauer  aus  Häusern  zu  ignorieren  und  den  Lärm
hunderter, aufgeregter Menschen, froh um den Brunnen, der mir
wenigstens den Rücken freihielt. Der raue Stoff meiner von Mut-
ter stolz gewaschenen Schürze war mein einziger Trost.
Plötzlich standen fremde Männer vor uns. Es waren Bauern, die
zur  Verdingung  neuer  Helfer  angereist  waren,  und  sie  begut-
achteten uns der Reihe nach. Sie stellten viele Fragen und eini-
ge sahen sich auch ausführlich unsere Statur an, von Jungen wie
Mädchen.
Neben mir musste eine, sie war bestimmt jünger als ich, gleich
drei Männern Rede und Antwort stehen, und am Ende sogar ih-
ren Mantel ablegen. Sofort fassten die Kerle sie an — aber wofür
ihre Hüften und Kehrseite?
Ich wandte mich verschreckt ab, auf dass mir diese Erniedrigung
erspart bliebe. Zu meinem Glück erklärte sich einer der drei Grap-
scher mit ihr einverstanden. Er reichte ihr den Taler Handgeld als
Vorschuss, bevor sie ihre spärlichen Sachen aufraffte, um mit ihm
im  Gasthaus  die  neue  Anstellung  zu  besiegeln.  Sie  blickte  kurz
zurück  zu  uns  und  sah  plötzlich  ganz  erleichtert  aus.  Ich  ent-
spannte mich ein wenig und versuchte ruhig zu atmen.
Aber nur, bis die zwei übrigen Bauern vor mir standen. Sie sahen
besser gekleidet aus als die meisten aus unserem Dorf — sie hat-
ten sogar Einstecktücher — aber sie rochen viel schlechter. Fauli-
ge Zähne hauchten mir Gestank ins Gesicht. „Zeig dich. Nicht so
schüchtern.“
Ich würgte, blind vor Angst. Legte zitternd den Mantel ab. Starrte
hoch zum kunstvoll verzierten Erker des größten Hauses gegen-
über, während der Ältere mich betatschte. Grob und sinnfrei. Sein
fauler Atem waberte um meinen Nacken. Der Jüngere stand da-
neben und grinste schief. Ich dachte, ich muss sterben, hielt aber
still.
Meine Rettung kam plötzlich von ebenjenem eindrucks-
vollen Haus Stein her angerauscht. Sehr hoch war der Hals dieser
älteren  Dame  mit  einem  grünen  Schal  umwickelt,  ihr  Kinn  ver-
schwand ganz darin. Sie hielt einen Korb in der einen und eine
Ledertasche in der anderen Hand, als sie schnurstracks auf uns
zu marschierte, der dicke Rock wippte bedrohlich. Sie würde wohl
kaum Gesinde suchen, dachte ich, war aber froh über ihre laute
Stimme im Rücken meiner Begutachter.
„Du  bist  genau  was  wir  suchen!“,  donnerte  sie  über  die  Köpfe
derer, die ihr noch im Weg standen.
Die schicken Stinktiere ließen mich sofort los und glotzten.
„Sehen Sie nicht, dass die Mädels frieren?“, fragte sie herausfor-
dernd.
Die  beiden  Kerle  starrten  kurz  und  wandten  sich  dann  schnell
dem nächsten Mädchen zu. Die Dame baute sich breit auf und
wartete. Als die nächste Magd ihren Mantel anbehalten durfte,
schob sie sich endlich vor mich. Stellte den Korb ab und zog ein
rotes Büchlein aus der Ledertasche. „Dein Alter?“
Ich schluckte. Meine Stimme krächzte: „Achtzehn.“
„Gut. Hast du Erfahrung?“
„Ich kann kochen, waschen, Brot backen, nähen …“
„Das klingt doch gut.“ Die merkwürdige Dame zückte einen spit-
zen Stift und schrieb etwas auf, wobei sie mit dem Kinn den dicken
Schal herunterdrückte und den Stift mit der Zunge befeuchtete.
Ihr Hut rutschte etwas nach vorn. „Hast du ein Gesindebuch?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Kannst du vielleicht lesen?“
In unserem Dorf gab es keine Schule, und Kinder arbeiteten so-
wieso auf dem Hof mit. Ich verneinte.
„Nicht  so  wichtig.“  Sie  starrte  in  ihr  Buch,  ich  wartete  zitternd.
„Sieh mich mal an“, befahl sie. Ich tat, wie mir geheißen. Eisblaue
Augen  trafen  meine.  Eine  entgleiste  Haarsträhne  kräuselte  sich
keck an ihrer Wange entlang. „Aha. Gefällt mir. Wie heißt du?“
„Mathilda Blum.“
Lachfältchen nahmen dem Blau das Eisige. „Gut, Mathilda. Magst
du für uns arbeiten?“

TEILEN