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Pfarrer Nußbaum warf zuerst meinen Angreifer hinaus. Der Knecht Reinhard durfte sofort seine Sachen packen – wir waren ihn los. Leider rächte er sich mit einer letzten, abscheulichen Aktion: bevor er endgültig ging, zerstörte er die aktuellen Abschriften des Pfarrers in seinem Arbeitszimmer, und es sollte wohl so aussehen, als seien ich oder Leo es gewesen. Wir beide entdeckten das Malheur zuerst. Um mich zu schützen, hatte Leo sich offenbart und dem Pfarrer alles erklärt. Wir hofften auf eine gütige Lösung für Leos Zukunft. Hochwürden dachte darüber nach.
Ich saß in der Stube, um Kleidung auszubessern und nachzudenken. Ich versuchte, das leise Schimpfen und laute Seufzen von nebenan zu ignorieren, wo Hochwürden die zerstörten Schriften rettete. Regentropfen trommelten auf die hohen Fenster hinter mir. Es braute sich etwas zusammen — und nicht nur draußen. Leos Zukunft stand auf dem Spiel.
Plötzlich stand der Pfarrer vor mir. „Sie haben Leo seinen Ring zurückgegeben?“
Ich nickte langsam und ließ die Hände wieder in den Schoß sinken.
„Gut. Seine Zeichnung davon hat mich überzeugt. Er kann das wirklich sehr gut, technisch, obwohl er ja … obwohl seine Finger nicht so wollen.“ Zögernd trat Hochwürden näher und sah an mir vorbei aus dem Fenster. „Sie sollten die Lichtmesskerzen aufstellen. Das ist doch ein heftiges Unwetter.“
„Natürlich. Das mache ich gleich.“
„Frau Blum. Aus irgendeinem Grund glaube ich Ihnen bei all dem — obwohl ich dem Jungen nicht vertraue. Er ist immerhin ein Ausreißer und wird von seiner Familie vermisst.“
Ich zog die Brauen zusammen und presste die Lippen zusammen. Mund halten, ermahnte ich mich still, und hoffte, dass Leo uns nicht hören konnte. Das hier konnte so oder so ausgehen.
Hochwürden rieb die Hände, sah aus dem Fenster und verkündete dann: „Ich habe mich entschieden. Leonard wird natürlich nach Euskirchen zurückgehen. Wo er seiner Tante anvertraut war. Er gehört dorthin, er ist viel zu jung.“ Seine erhobene Hand stoppte meinen Protest. „Es ist für ihn allerdings wahrscheinlich nicht zumutbar, dass er wieder in dieser Fabrik arbeitet. Das habe ich gesehen.“
„Dass er überhaupt arbeitet“, murmelte ich und erntete einen scharfen Blick.
„Ich werde ihm also ein Schreiben mitgeben, in dem ich seinem Stiefonkel darlege, was ich beobachtet habe und vorschlagen, ihm harte körperliche Arbeit zu ersparen, bis es ihm besser geht. Er sollte etwas geschont werden.“ Der Pfarrer sah geradezu stolz auf sich selbst aus, und ich wollte sofort einwerfen, dass man dann wohl sehr lange warten könnte.
Laut jedoch fragte ich: „Wird man denn auf Sie hören, Herr Pfarrer?“
Er sah mich direkt an. Seine Igelaugen waren nachdenklich. „Das entscheiden seine Eltern. Oder Stiefeltern.“ Die Igelaugen funkelten mich jetzt an. „Es ist die beste Lösung für Leonard. Ich bin sogar bereit, ihm die Reise zu zahlen und gebe ihm das Schreiben mit.“
Ich sah wohl genauso wütend aus, wie ich mich fühlte, denn Hochwürden fragte: „Was sollte es Ihrer Meinung nach denn noch sein, Frau Blum? Leonard kann keinesfalls weiter ohne das Wissen seiner Familie hier unterm Dach herumlungern.“ Wenn ein Gottesmann vor Wut schäumen kann, dann tat Pfarrer Nußbaum das jetzt – zumindest war er sehr nah dran.
Mir wurde heiß um den Kragen. „Ich glaube, dass diese Leute ihn kein bisschen vermissen. Und dass sie ihn sofort zu den dortigen Nonnen stecken werden.“
Er hob die Brauen. „Und? Ist das so eine schlechte Lösung, wenn die Familie nicht imstande ist, ihn durchzubringen und er nicht in der Lage, zum Lebensunterhalt beizutragen? Kinder wie er bekommen dort eine Unterkunft und Verpflegung unter Gottes Schutz. Wie Sie sicher wissen, Frau Blum.“
Ich senkte den Kopf. Und sie leben mit Prügeln, harter Arbeit und Angst, ergänzte mein aufgewühltes Hirn. Leo tat mir unendlich Leid. Das alles war nicht, was er wollte. Es war, was er fürchtete und um jeden Preis verhindern wollte. Er hatte einen Zeh dafür geopfert, so weit weg zu kommen, gehungert und gefroren, und nun sollte er wieder zurück?
„Ist Leonard wieder oben?“, fragte der Pfarrer. Ich nickte überzeugt, als wüsste ich es. „Dann ist also alles geklärt. Ich muss die Kutsche organisieren. Das kann einige Tage dauern, wenn wir Pech haben. Es gibt hier nicht so viele Möglichkeiten wie in Euskirchen.“ Letzteres sagte er mit einer Betonung, die mir wohl die generell besseren Möglichkeiten einer Stadt nahelegen sollten.
Ein plötzlicher Donnerschlag traf mich ins Mark, genau wie die Erkenntnis: wir hatten verloren.
Leonard hatte umsonst gekämpft. Er würde zurückgehen müssen, wenn er nicht erneut ins Ungewisse fliehen wollte. Mir war klar, was davon er bevorzugte. Und beides hieß, dass wir getrennt würden.
„Ich bin mit dem Arbeitszimmer noch nicht fertig.“ Seine Miene verfinsterte sich. „Der Schaden ist größer als befürchtet. Es kann mich Wochen kosten, das alles wieder neu zu schreiben. Das Original hat ebenfalls gelitten.“
„Das tut mir sehr Leid.“ Aus irgendeinem Grund knickste ich verbissen, bevor ich an ihm vorbeihuschte und in die Küche flüchtete.
Sein Schimpfen drang vom Arbeitszimmer bis zu mir, passend begleitet von gelegentlichem Donner und Blitzlicht. Ich war todmüde, ängstlich und verwirrt und wäre am liebsten endlich ins Bett gekrochen, wenn ich dort nicht den noch ahnungslosen Leo vermutet hätte. Ich konnte ihm einfach nicht sagen, was der Pfarrer entschieden hatte, jetzt, wo er sich gerade über seinen Ring freute. Also blieb ich bleischwer sitzen und schob mein Rübenkrautbrot umher.
Plötzlich fiel ein Schatten auf meinen Teller und ich zuckte zusammen. Das Grollen von draußen hatte die Schritte drinnen verschluckt. „Frau Blum. Wissen Sie, wo das Buch ist?“
„Das Buch?“
Hochwürden seufzte ungeduldig. Er sah so müde aus wie ich mich fühlte. „Ich nehme an, Sie haben es noch gesehen, als Sie und Leonard in meinem Zimmer waren. Es lag am nächsten neben den Blättern … es war meine Vorlage. Haben Sie es vielleicht weggenommen, um aufzuräumen? Es in Sicherheit zu bringen?“ Er sah gestresst aus, hektische rote Flecken griffen vom Hals auf sein Gesicht über und er knetete die runden Hände.
„Ich kann Ihnen suchen helfen“, bot ich schwach an. Reinhard konnte es nicht mitgenommen haben. „Herr Pfarrer, ich weiß es wirklich nicht. Ich war nicht mehr im Zimmer.“ Der Pfarrer zog die Brauen zusammen, bevor schwarze Wolken die Küche verdunkelten und seine Mimik mir entglitt. „Und Leo auch nicht“, schob ich schnell hinterher. „Er war die ganze Zeit oben.“
„Das hoffe ich. Wenn er nämlich dieses besondere Buch gestohlen hat, dann werde ich andere Schritte einleiten, als das, was wir gerade besprochen haben, Frau Blum! Dann ist er nicht mehr als ein räudiger Straßenjunge, der den Wert dieser überlieferten Werke — historisch und theologisch — mit seinen krummen Füßen tritt, vom Alter und der Einmaligkeit der Papiere einmal ganz zu schweigen.“ Er holte tief Luft, sein Kopf drohte zu platzen. „Sie haben keine Ahnung, wie wertvoll diese Schrift ist!“
Ich saß stumm und starrte. Etwas zerbrach in diesem Moment, nicht nur zwischen uns, die immer gut miteinander gearbeitet hatten, sondern es zerbarst das Bild, das Hochwürden immer abgegeben hatte. Er war immer besonnen und abwägend gewesen. Freundlich und gerecht. Ein wahrer Hirte seiner Schäfchen und Fels in der Brandung. Er bot Juffern die Stirn und war bereit, weltliche Dinge in Betracht zu ziehen. Aber jetzt beschuldigte er einen wehrlosen Jungen, der unschuldig und vor allem mein Freund war, für seine eigene Schusseligkeit. Für ein blödes Buch! Das sah meinem geachteten Pfarrer nicht mehr ähnlich. Ich hätte eigentlich so wütend sein sollen, so völlig außer mir wie er, weil er einfach hinging und ein kleines Leben zerstörte, indem er Leo nach Euskirchen schickte. Aber er explodierte hier für ein paar gebundene Seiten!
Ich bekam Angst. Angst um uns beide, Leo und mich. Ich hoffte fast, dass Hochwürden es in meinem Gesicht sehen würde. Und er tat es, dank unaufhörlicher Blitze aus wütendem Himmel. Denn einen Moment stand Pfarrer Nußbaum noch bebend vor Zorn vor mir, dann drehte er um und stampfte über den Flur, wo er krachend die Arbeitszimmertür hinter sich zufallen ließ.
Ich saß wie gelähmt, unfähig, klar zu denken. Mein erster Impuls war, zu meinem einzigen Vertrauten in Flohsdorf zu rennen, und der war nun einmal Leo. Mein kleiner, verrückter Leo, für den ich alles versucht hatte — und doch verloren. Nicht nur ihn, meinen Freund, sondern wahrscheinlich auch meine Arbeitsstelle. Nach diesem Wutausbruch bestand wohl kein Zweifel mehr, dass auch mein Weg hier endete.
Ich riss die Schürze herunter und stürmte die Treppe hinauf. Die Lichtmesskerzen waren mir völlig egal. Sollte dieses verdammte Haus doch in Schutt und Asche geblitzt werden!
Doch als ich in unserem kleinen, gewittergeschüttelten Zimmer ankam, war es leer. Eine neue Kälte stand im Raum, beleuchtet von Himmelsentladungen. Mein Herz hämmerte wild gegen die Rippen. Ich musste gar nicht in den Schrank schauen. Ich wusste sofort, dass Leo diesmal nicht auf Streifzug war. Es war eine glasklare Erkenntnis, ein sicherer Instinkt.
Und dann sah ich durch die dunklen Schatten, woher mein dumpfes Gefühl kam. Leo hatte erstmals unser Bett gemacht.
Mein Freund würde nicht mehr wiederkommen.

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