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Flohsdorf, Mitte Juni 1880

Der Nachbarssohn Jasper war es, der mich fand. Zuerst spürte ich nur eine warme Hand auf eiskalter Haut, meiner Haut, wie ich langsam erkannte. Ich versuchte, die Augen zu öffnen. Wo war ich? Wer war das? Warum tat alles weh? Kaltes Wasser gurgelte glitzernd um meine steifen Beine, und mein Rock und Mantel waren völlig durchnässt. Der Geruch von Moos und Erde betäubte mich. Eine junge, sanfte Stimme drang zu mir. Sie kam mir vage bekannt vor, aber ich verstand ihre Fragen nicht. Ich lag wie eine kaputte, weggeworfene Puppe im Dreck. Dann zog Jasper mich mit erstaunlicher Kraft hoch.
Ich sah die Böschung vor mir und das Puzzle aus Geräuschen und Gefühlen machte einen Sinn.
Ich lag halb im Bachlauf, dem ich nachts gefolgt war. Meine Ohren mussten voller Dreck sein, oder mein Gehirn einen guten Schlag erhalten haben, denn ich verstand immer noch nicht, was Jasper sagte. Er zeigte nach oben und die Bilder wurden klarer. Meine Suche nach Leo, die Dunkelheit, Feuchtigkeit, ein falscher Tritt, und ich war wohl die Böschung hinabgestürzt.
„Du hast dir den Kopf gestoßen“, stellte Japser gerade fest. Ich schüttelte selbigen und der stechende Schmerz bestätigte ihn. Kalte Angst ergriff mich bei dem Gedanken, dass ich den ganzen Sonntag hier in eisigem Wasser hätte liegen können. Er lächelte. „Pst. Du hast sicher Kopfweh. Mein Vater ist nicht weit. Ich hole ihn und er trägt dich zurück. Du bist nicht weit gekommen, wo immer du um diese Zeit hin wolltest.“ Bevor ich mich entschuldigen konnte, stand er auf. „Warte hier“, als wenn ich irgendetwas anderes hätte tun können. Dann schleppte sich Jasper rutschend und fluchend den matschigen Hang hinauf, bevor er aus meinem getrübten Blickfeld verschwand. Ich sah hinter mich und eine meiner verlorenen Butterbrottüten winkte ihm flatternd nach.

Eine aufmüpfige Magd, die nachts im Wald herumschlich und dabei zwar nicht zu Tode kam, aber immerhin arbeitsunfähig wurde, konnte der Pfarrer nicht gebrauchen. Sicher würde er mich feuern. Hochwürden kam nachmittags zu meinem Krankenlager bei Bauer Risser, wo ich ängstlich und beschämt auf ihn wartete. „Frau Blum, Sie werden mir wohl zustimmen, dass Sie mir so keine Hilfe sind.“ Ob er meine Verletzung oder Widerborstigkeit meinte, ließ er offen. Ich nickte schwach, unfähig auch nur den Arm zu heben. Seine Igelaugen wurden immerhin etwas wärmer, als er sanft sagte: „Sie haben mehr als eine Dummheit begangen. Ich glaube, ich will gar nicht alle Details wissen. Erst diese Heimlichkeit mit diesem komischen Jungen, und jetzt fallen Sie aus …“ Seine Brauen zogen sich zusammen.
Was meine Familie dazu sagen würde, wollte ich mir gar nicht ausmalen. Ich würde nach Hause geschickt werden.
„Sie werden ab sofort beurlaubt“, bestätigte der Pfarrer mich. „Anstatt hier herumzuliegen und uns allen auf die Nerven zu fallen, tun Sie das lieber bei Ihrer Familie, die das wohl schon gewöhnt sein muss …“ Er zwinkerte, zog seine kleine Bibel aus der Tasche und legte sie neben mich. „Damit Sie Unterhaltung haben, solange Sie hier auf die Kutsche warten.“ Er lächelte gütig. „Ich bin nicht mehr aufgebracht. Eine Mütze Schlaf und die Ruhe des Herrn hat mich auf den Boden zurückgebracht. Mein vermisstes Buch ist zwar mit ihrem Freund weg …“
„Warum immer Leo? Er ist kein Dieb, er würde niemals stehlen!“ Ich saß aufrecht und kampfeslustig im Bett, und bereute es sofort.
Der Pfarrer blieb erstaunlich ruhig. „Ich bewundere Ihren Kampfeswillen für diesen merkwürdigen Burschen. Aber Fakt ist, seit er weg ist, ist das Buch auch weg. Oder andersherum. Das Buch ist mit ihm weg. Sie haben ihn vielleicht falsch eingeschätzt, und Ihre Gutmütigkeit kann ich Ihnen nicht vorwerfen. Vielleicht kommt er ja zur Vernunft und kehrt zu seiner Familie in Euskirchen zurück.“
„Das glaube ich sicher nicht …“ Ich schlug mir schnell auf den Mund. Was war denn wieder mit mir los? Sobald es um Leo ging, begann ich automatisch zu kämpfen. Er hatte wohl auf mich abgefärbt …
Hochwürden lächelte unerschütterlich. „So schlecht geht es Ihnen wohl gar nicht. Sie widersprechen mir wie immer.“ Ich errötete, blieb aber stumm. „Sie haben Nächstenliebe bewiesen, für einen Jungen, der es nötig hatte, und versucht ihn zu schützen, auch wenn das unvernünftig erscheint. Sie wollten nicht mir schaden, sondern ihm helfen. Das habe ich eingesehen, in einem langen Zwiegespräch.“ Er sah zur Decke . „Nächstenliebe, Loyalität und Hilfsbereitschaft, das sind schöne Eigenschaften.“ Ich nickte und schwieg weiter eisern. „Deshalb schicke ich Sie zur Erholung heim, und wenn Sie wieder einsatzfähig sind, sagen wir, in einigen Wochen … kommen Sie bitte zurück.“
„Was?“ Jetzt fiel mir die Kinnlade buchstäblich herunter. „Wie bitte?“
„Zurück.“ Er lächelte so gütig, wie es nur ein Gottesmann kann, der mit sich völlig im Reinen ist. „Sie haben wohl noch Gottes Erdboden im Ohr.“
„Oh. Oh, mein Gott … ich …“ Mein Herz begann plötzlich unkontrolliert zu schlagen und ich wäre sicher aus dem Bett gesprungen, wenn der Knöchel mich nicht erinnert hätte, warum ich hier lag.
Er schüttelte geduldig den Kopf und seufzte. „Frau Blum, Frau Blum. Ich hatte den Gedanken, das sage ich Ihnen ganz offen. Aber ich kann doch nicht die Person entlassen, die meine geachtete Frau Dries mir ausgesucht hat! Wie stünde ich denn vor ihr da?“ Er warf theatralisch die Arme hoch.
Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen. Beurlaubt! Ich hatte noch eine Chance!
„Sie fahren nach Hause und werden ganz gesund. Dann kommen Sie zurück zu Else und mir und wir versuchen es noch einmal, ohne irgendwelche Ablenkungen durch kleine, verwahrloste Burschen, die meine wertvollen Bücher entwenden.“
Ich war so erleichtert, dass aller Schmerz wie weggeblasen war. „Vielen vielen Dank, Herr Pfarrer.“
Er stand auf und schob die Bibel näher zu mir. „Lukas 18. Jesus liebt die Kinder. Sie sind alle, auch eine Gestalt wie Leonard, Kinder Gottes. Das müssen wir immer bedenken, auch wenn sie anders aussehen, denken, oder gar vom rechten Weg abgekommen sind. Ich bete für Leonard, den ich nicht verstehe, aber doch annehmen muss, wie er ist.“ Er lächelte auf mich herunter und legte einen runden Finger auf seine Lippen. „Schlafen Sie noch etwas, Frau Blum. Gebe Gott Ihnen Kraft.“

Weyerbach, Ende Juni 1880

So kam es, dass ich plötzlich wieder Zuhause in Weyerbach bei meiner Familie war, zur Erholung von einer selbst eingebrockten Fußverletzung. Ich tat trotzdem mein Bestes, Mutter möglichst hilfreich zu sein. Vater war als Fuhrmann unterwegs, um dazuzuverdienen, was ihr gar nicht gefiel, weil sie und meine Geschwister den Hof allein bewältigen mussten. Morgens, wenn die anderen mit dem kleinen Wagen zur Heuernte loszogen, blieb ich in der Küche und schnippelte Gemüse und schälte Kartoffeln für das Abendessen. Ich besserte Kleidung aus und tat, was ich auf einem Bein humpelnd erledigen konnte. Mittags setzte mich meine Freundin Barbs in unsere Handkarre, die Körbe mit geschmierten Broten hinter mir. Alle trafen sich zum Mittagessen auf dem Feld. Wir setzten uns in den Schatten der Heuböcke, bestimmt zwölf Mann, und verschlangen die Butterbrote. Dazu gab es eiskaltes Bachwasser, frisch in die Kanne gefüllt und im Deckel herumgereicht. Nach dem Essen machten die anderen sich wieder ans Mähen und Wenden, während ich dasaß und in der Sonne nähte. Das Wetter war stabil, der Himmel wolkenlos blau. Wenn doch einmal ein Schauer kam, versteckten wir uns unter den Heuböcken und genossen die engen, duftenden Höhlen. Ich war verletzt, aber glücklich.
Ich war wieder Zuhause.
Ich beobachtete meine Brüder, wie sie die Sensen schwangen, und meine kleine Schwester Rosi, wie sie eifrig gebückt hinterherlief, um Gras aufzusammeln, genauso wie Leo in der Weberei unter den Maschinen ausgesehen haben musste, als er unter Qualen die Wolle einsammelte.
Ich erkannte: hier auf dem kargen Land der Eifel war es doch nicht anders als in Euskirchen. Jeder war geboren, um zu schuften. Die Notwendigkeit zu überleben nahm keinen aus der Pflicht, nicht in der Stadt und nicht auf dem Land. Jede Sentimentalität unterlag dem Überlebenskampf, Trauer musste sich dem Alltag unterordnen. Menschen starben, das Leben musste weitergehen. Ich dachte an Leo, das rationalste Kerlchen, das ich kannte. Sein Geist war messerscharf und trotzdem fühlte er viel zu sehr, verteufelte das unverdiente Leid der Kinder, an dem er selbst auch so schwer trug. Und etwas in mir stimmte ihm zu, in diesem Moment auf dem sonnenbeschienenen Feld. Für irgendetwas musste das alles hier gut sein. Wenn man nur lebte, um zu arbeiten, und starb, um ersetzt zu werden, wofür hatte Gott uns dann Gefühle gegeben?
Ich sah in die Wolken, dorthin, wo ich Gott vermutete. Andersherum wurde ein Schuh draus. Wir arbeiteten, um zu leben, und wurden betrauert, weil man uns liebte. Bevor andere uns ersetzen mussten. Weil dieser endlose Kreislauf des Lebens und Überlebens nie endete.

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