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Adenau, Dezember 1879
In einem kleinen Kaffeehaus in einer Seitengasse, deren Name
ich  vergessen  habe,  besiegelte  ich  meine  Verdingung  für  den
Haushalt von Pfarrer Nußbaum, unbekannterweise. Seine Haus-
hälterin Else Dries erwies sich als resolut, aber herzlich, und wir
unterhielten  uns  noch  länger  darüber,  wie  sie  in  die  missliche
Lage  geraten  konnte,  sich  auf  diesem  ‚Viehmarkt‘,  wie  sie  den
Gesindemarkt nannte, unter die Bauern mischen zu müssen, um
mich anzustellen.
Sinzig
Eine Woche zuvor hatte ihr geachteter Pfarrer Nußbaum Else Dries
abends mit einem dicken Schreiben in der Hand überrascht. Sie
stand am Herd, in dessen Tiefen rundbackige Bratäpfel schwitz-
ten, als er hereinstapfte und ohne Begrüßung erklärte: „Frau Else,
das ist von Köln!“ Hochwürden räusperte sich ergriffen, ehe er
fortfahren konnte. „Der Erzbischof versetzt mich — also uns — in
die schöne Eifel! Mitten rein!“ Er drehte den Umschlag um. „Glau-
be ich zumindest. Ich kenne jetzt nicht jedes Dörfchen.“
Sie zog langsam den Ofenhandschuh ab und klemmte ihn über
die  umlaufende  Stange.  Drehte  sich  um  und  musterte  ihn.  Er
stand  ratlos  vor  seiner  Magd,  bis  diese  ihm  den  Brief  aus  der
Hand nahm. „Wie heißt es denn? Sind Sie sicher, dass ‚mitten in
der Eifel‘ schön ist? Und warum überhaupt?“
„Nun, ich …“ Pfarrer Nussbaum nahm seine runde Brille ab. „Es ist
ja nun bekannt, dass ich als Übersetzer der Theologica und ande-
rer Werke … nun ja, auch viel Zeit benötige. Ich glaube, man hat
mir  zugehört.  Das  ist  doch  ein  Zeichen  der  Anerkennung,  oder,
Frau Else?“ Er wedelte mit der Sehhilfe.
Sie ignorierte ihn. „Flohsdorf. Aha. Wo ist das?“
„Das Erzbistum höchstselbst versetzt mich, damit ich mich noch
ausgiebiger meinen Studien widmen kann!“
„Hier steht, dass das alte Pfarrhaus dringend wieder Zuwendung
benötigt“, stellte Else Dries trocken fest. „Hatten die etwa keinen
Pfarrer?“
„Was? Doch, doch. Der Pfarrer Keßmann, steht hier. Er ist jetzt bei
unserem Herrn.“ Er bekreuzigte sich schnell.
„Sie wissen, dass das sehr viel Arbeit wäre. Ich stehe nicht mehr
lange zu Ihrer Verfügung.“ Sie hob die Brauen und musterte das
verklärte Gesicht ihres Arbeitgebers.
Sein Blick fand ihren, die igelbraunen Augen weiteten sich. „Das
hatte ich ganz vergessen! Frau Else!“
Sie hob die Hand, um ihn zu bremsen. „Jawohl. Ruhestand.“
„Nein! Ich habe das wohl verdrängt, weil ich es mir nicht ausmalen
will …“
„Ich ahnte nicht, dass Sie die Pfarrei wechseln würden.“
„Können Sie nicht mitgehen? Sie haben doch keine Familie hier.“
Manchmal wunderte sich Else Dries über den egoistischen Pragmatismus ihres Herrn Pfarrers. Sie reichte ihm den Brief zurück,
ohne zu antworten.
Er setzte die Brille wieder auf und sagte: „Ich weiß es. Wir finden
eine neue Magd. Natürlich haben Sie Ihren Ruhestand verdient.
Aber Sie müssen die neue Magd einarbeiten. Und wenn sie alles
kann, und es Ihnen dort in …“, er schielte auf den Brief, „… Flohs-
dorf gefällt, bleiben Sie mir nur als Küsterin erhalten. Was sagen
Sie dazu?“
Manchmal war es schwer, den freudigen Augen des Herrn Pfarrer
zu widerstehen. Else Dries fühlte sich selbst nicken, bevor sie ahn-
te, was das bedeutete.
Euskirchen, kurz vor Weihnachten 1879
An diesem Morgen war Leonard ungewöhnlich kooperativ. Er ver-
abschiedete sich am Tor der Tuchfabrik von Tante Johanna und
steuerte zielstrebig auf das dunkelgraue Gebäude zu. Ohne Wi-
derstand.  Sie  sah  ihm  kurz  nach  und  betrachtete  nachdenklich
ihre Hand. Der Junge hatte sie zum Abschied kurz und fest ge-
drückt. Auch erstmalig. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl, aber
keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie wandte sich ab und eilte
davon.
Leonard stand inzwischen im ohrenbetäubenden Lärm der Web-
maschinen. Ihr Stakkato dröhnte an diesem Morgen besonders
laut  in  seinen  empfindlichen  Ohren.  Er  starrte  eine  Weile  die
rhythmisch  auf  und  nieder  springenden  Rahmen  an,  sah  die
Schiffchen zwischen den Garnen hin und her schießen. Er hasste
diesen Krach. Er übertönte sogar seine Gedanken, und die waren
das Letzte, was ihm nach gestern noch geblieben war.
Er senkte den Blick langsam zu Boden, dort wo Anton und er die
gefallene  Baumwolle  unter  den  Messern  einsammeln  mussten.
Vierzehn endlose Stunden jeden Tag.
Anton hatte gestern versagt. Er war nicht mehr in einem Stück zu
seinen Eltern zurückgekehrt. Aber wenigstens hatte er noch Eltern
gehabt. Sie würden um ihn weinen, hoffte er. Aber wer würde ihn,
Leo, vermissen?
Er starrte auf die Stelle, wo Anton abgelegt worden war. Nichts
mehr zu sehen. Sie hatten gründlich saubergemacht. Ein ande-
rer Junge hatte schon seinen Platz eingenommen und hetzte ge-
krümmt zwischen den Maschinen hin und her – gejagt vom ewig
gleichen Rhythmus der ratternden Webstühle.
Leo streckte sich. Atmete nicht zu tief ein, um so wenig Staub und
Flusen wie möglich in seine geschundene Lunge zu lassen.
Der  Aufseher  stand  vor  ihm.  Deutete  wortlos  zur  Raumaschine
am  Fenster.  Dort  wurden  die  Tuche  angeraut,  indem  sie  über
dichte,  rotierende  Reihen  von  Weberdisteln  gezogen  wurden.
Leonard nickte nur und schlurfte in seinem schleppenden Gang
hinüber. Das war immerhin nicht potenziell tödlich. Sein Problem
war, dass er nicht mehr so lange aufrecht stehen konnte. Seine
Füße waren gekrümmt und geschwollen. Er kämpfte bei jedem
Schritt mit unsäglichen Schmerzen.
Und außerdem wurde sein linker dicker Zeh zusätzlich von einem
kostbaren Rubinring eingeschnürt.
Leonard nahm seine Position ein und begann, die Disteln zu fe-
gen.
Als der Aufseher weit genug entfernt und die anderen Männer in
ihre Arbeiten vertieft waren, glitt Leo überraschend geschmeidig
hinter der Reihe Raumaschinen entlang, tief geduckt, als würde
er immer wieder Baumwollreste auflesen. Diese Haltung fiel ihm
leichter als einfaches Stehen – und sah weniger verdächtig aus. Er
hatte nur eine einzige Chance.
Als er in der Ecke der Halle mit dem Rücken die Tür berührte, hielt
er die Luft an und sah sich ein letztes Mal um.
Dann schlich der zehnjährige Leonard von Hellwig im schützen-
den Krach der ratternden Webmaschinen davon. Er kehrte dem
betäubenden  Lärm  und  den  viel  zu  jungen  Arbeitern  den  Rü-
cken, schob die Tür hinter sich zu und stolperte so schnell seine
kranken  Füße  es  erlaubten  die  wenigen  Stufen  hinunter  in  den
Hof.  Er  drückte  sich  unter  Schmerzen  an  den  Backsteinen  ent-
lang  und  erreichte  zu  seiner  eigenen  Überraschung  unbemerkt
das Seitentor, das immer einen Spalt offen stand. Der Pförtner las
Zeitung. Er duckte sich unter dessen Fenster vorbei und bis zur
Außenmauer der Fabrik. Er humpelte jetzt gewaltig, aber außer
ihm selbst nahm es zu seinem Glück niemand wahr.
Nur noch entfernt klang der Lärm der Maschinen herüber. Leo-
nard beschloss, sich nie wieder so quälen zu lassen und stolperte,
immer noch gebückt und vor Kälte schlotternd, auf die nahe ge-
legene Halde zu. Er hatte keinen Plan.
Aber er würde rennen müssen.

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