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Sonntag, 1. Februar 1880, nachts
„Noch über den Kamm, dann müsste es da sein“, ermunterte Else
Dries ihren frierenden Herrn Pfarrer.
Der  Geistliche  hatte  sich  bis  über  die  Nase  in  seinen  karierten
Wollschal gewickelt, bibberte nach endlosen Stunden Fahrt aber
trotzdem unverhohlen neben ihr. Seine runde Brille hatte dekora-
tive Eisblumen angesetzt.
Glücklicherweise  war  Elses  Ahnung  korrekt.  Hinter  dem  Hügel
schlängelte sich die Straße bergab und erste Häuser tauchten auf,
stockdunkle  Silhouetten  in  mondheller  Nacht.  Kopfsteinpflaster
schüttelte sie durch, sie bogen zweimal scharf ab, dann hielt die
Kutsche nach einem lauten ‚Hoh‘ an. Else seufzte tief erleichtert
und nebelte Hochwürden in einer Atemwolke ein. Die lange Reise
hatte endlich ein Ende.
Sie sahen ein dunkles, sehr hohes Hausquadrat. Höher und auf-
rechter  als  die  geduckten,  altersschiefen  Bauernhäuser,  die  die
Pflasterstraßen säumten. Das musste ihr neues Pfarrhaus sein.
Schräg  gegenüber  reckte  die  Kirche  von  Flohsdorf  stolz  ihren
Turm in die Nacht.
Pfarrer  Nußbaum  folgte  ihrem  Blick.  „Ein  wirklich  schöner  Bau
und noch sehr jung. Die alte Kirche, stand im letzten Schreiben,
ist bei einem Blitzschlag beschädigt worden. Dieses neue Gemäu-
er steht erst seit ein paar Jahren in der jetzigen Form.“ Er zeigte
hinauf. „Es wurde einfach um die Grundfeste herum erneuert, wo-
für das Geld eben gerade reichte. Darum ist der Turm auch so
kurz und dick geraten. Irgendwie sympathisch, nicht?“ Er sah an
sich herunter.
Else  musste  lachen  und  sie  marschierten  steifen  Schrittes  ge-
meinsam zu ihrer neuen Wirkungsstätte.
Montag, 2. Februar 1880, Ziehtag — Tilda
An meinem ersten Arbeitstag fand ich mich zuerst in der Küche
dieses viel zu großen Pfarrhauses wieder. Ich starrte ergriffen um-
her  —  mein  ganzes  Elternhaus  war  nur  wenig  größer  als  diese
Küche. Und erst der riesige Herd! Er glänzte und war reich ver-
ziert, mit mehreren Kochplatten und Wassertank an der Seite. Er
musste Unmengen Holz fressen.
Ungläubig sah ich, wie Frau Dries mir einen guten Kaffee vorsetz-
te und den Mantel abnahm. Ich plumpste auf die Bank. Es gab
kein Zurück mehr. In dem Moment, wo ich die Tasse hob und den
köstlichen Kaffee auf der Zunge hatte, begann mein neues Leben.
Viel später, als es dunkel und ich völlig erschöpft von einem anst-
regenden Tag war, durfte ich oben weiter auspacken und schlafen
gehen. „Nimm dir ein Stück Butterkuchen mit nach oben“, schlug
Else noch vor. „Und ein Licht. Ich hoffe, es ist nicht allzu kalt.“
So drehte ich mich um und stieg hinauf zu den Schlafkammern
der Dienstboten. Kurz dachte ich beim Eintreten an zu Hause, wo
meine  Geschwister  sich  auch  heute  Nacht  gegenseitig  wärmen
würden.  Das  würde  mir  sehr  fehlen,  und  war  etwas,  an  das  ich
mich  erst  gewöhnen  musste.  Ganz  allein  zu  schlafen,  ohne  die
Wärme der anderen Körper, den Geruch ihrer Haare und die be-
ruhigende Enge. Mein neues Bett würde mir unendlich groß und
leer vorkommen.
Ich zog mich um und stieg unter den Deckenberg. Lag hellwach
im fahlen Mondlicht, das vom kleinen Fensterchen hereinfiel. Alle
Sinne stellten sich scharf.
Die Räume rochen anders als zu Hause. Nicht so feucht-modrig.
Eher holzig-staubig. Es war sehr still hier oben, wo das Haus am
kältesten und schiefsten war. Dieses Haus würde die ganze Nacht
nicht aufhören, sich sacht zu bewegen, in jedem Balken und jeder
alten Diele. Da, ein Scharren. Gab es hier Mäuse? Sicher. Damit
lebte man. Aber scharrten die so laut?
Ein Luftzug erreichte mein Gesicht. Ich überlegte schnell. Ziehen
würde es hier immer etwas, obwohl das Fenster relativ dicht zu
sein schien. Der Mond schien schwach herein, aber ich hielt die
Augen  lieber  fest  geschlossen.  Wartete.  Lauschte.  Kein  Luftzug
mehr  und  kein  Scharren.  Gut.  Ich  lockerte  bewusst  die  Fäuste,
die ich unter der Decke gemacht hatte und atmete durch. Dann
öffnete ich die Augen.
Und sah direkt in ein fremdes Gesicht.
Ich schrie nicht. Ich lag erstarrt und sah unbewegt in diese ande-
ren Augen. Ich im Bett, und dieser Fremde über mir. Er hatte sich
zu mir gebeugt, stand still da. Aber er funkelte mich an wie mit
unterdrückter Wut, sein Blick glühte wild im grauen Licht.
Ich zog den Kopf zurück und fand mich an die Wand gepresst
wieder.  Die  Decken  schützten  mich  nicht  mehr.  Ich  starrte  und
starrte, meine Stimme war weg.
Das musste ein Alptraum sein.
Mit diesem kleinen Abstand zwischen mir und dem Eindringling
erkannte ich plötzlich, dass er gar nicht so groß war, wie es zuerst
schien. Und außerdem sehr schmächtig. Er hatte keine Waffe in
der Hand und das einzig Gefährliche waren seine glühenden Augen. Es war ein Junge, keine Ahnung, wie alt. Aber er war kleiner
und  dünner  als  ich.  Seine  hellen  Haare  standen  wie  eine  wilde
Löwenmähne von seinem Kopf ab. Lange ungekämmt. Der Hals
wirkte darunter sehr dünn. Zerbrechlich sah er aus.
Bis auf diese Feueraugen.
Ich setzte mich aufrecht und atmete aus. Er trat einen Schritt vom
Bett weg. Keiner sagte etwas. Ich versuchte, zu atmen.
Dann sprach er plötzlich, mit rauer, junger Stimme: „Das ist mein
Bett.“
Mein  Herz  machte  einen  Satz.  Ich  überlegte,  ob  Traummonster
reden  können.  Ob  das  hier  wahr  sein  konnte.  Ob  es  uns  beide
überhaupt gab, hier oben in diesem kleinen Raum, fernab vom
Rest  des  riesigen  Hauses.  Schliefen  Else  und  der  Herr  Pfarrer
schon? Absurderweise lauschte ich kurz, ob ich ein Schnarchen
vernehmen konnte. Aber alle Geräusche waren verstummt.
Das ganze Haus schien den Atem anzuhalten.
Als ich nicht reagierte, trat der Junge weiter zurück. Die Augen
verloren ihr Feuer, erloschen, etwas brach in ihnen. Sein Körper
zuckte  kurz  zusammen,  als  sei  er  schmerzhaft  in  etwas  hinein-
getreten. Er sah mich unverwandt an, aber weicher, verletzlicher
jetzt. „Das hier war mein Zimmer“, stellte er fest, aber seine Stim-
me war jetzt schwach, und er bückte sich, so als wollte er etwas
aufheben. Dann sackte er zusammen und aus meinem Blickfeld.
Ich rutschte nach vorn, an die Bettkante, und sah ihn auf dem Bo-
den kauern. Er atmete schwer und hatte eine steile Falte zwischen
den Augen. War er erst acht oder schon zehn? Die wilden Haare
verbargen sein Gesicht, als er die Hände um die Knie schlang.
Ich überlegte rasend schnell. Er würde mir nicht ernsthaft gefähr-
lich werden können, auch wenn ich einfach aufstand und hinaus-
ging.  Ich  könnte  einfach  Hilfe  rufen.  Ich  richtete  mich  auf  und
schlug die Decken zurück.
„Nein!“
Ich zuckte zusammen.
Die großen Augen glühten wieder. „Nein! Lass mich … lass … ich
lasse dich in Ruhe! Ich gehe …“ Die dünne Stimme hob erst an, um
dann abrupt abzubrechen, wie ein zu schwacher Ast. Ich glaubte,
das Knacken zu hören.
„Was?“
Der Junge sah mich nicht an und rutschte nur weg von mir, an die
Wand mit dem schmalen Kleiderschrank. Er war wirklich viel zu
dünn. Meine Blicke schienen ihn noch weiter zu quälen, denn er
legte den Kopf schief wie ein verletzter Vogel und duckte sich in
den Schutz seines Ellenbogens.
Seine Gestalt im weißen Mondlicht verschmolz mit dem Schrank.
Er hatte beide Arme um die angezogenen Beine geschlungen und
die wilden Haare standen als zackiger Schatten vor dem Holz.
Mir war viel zu kalt, aber Angst hatte ich nicht. Ich zog die Decken
wieder um mich und eine herunter, die ich ihm hinhielt. „Hier. Du
frierst.“
Er hob ein wenig den Kopf. Die Arme fielen herab und er stieß sich
vorwärts, auf die Knie. Jetzt erreichte er mich fast und nahm das
Angebot an. Wickelte die Decke schnell um sich.
Ich beobachtete seine ungelenken Bewegungen, diese Scheu ei-
nes geprügelten Hundes. Ich fragte: „Wer bist du?“
Er überlegte lange. Dann ließ er den Kopf wieder sinken, sodass
nur ein helles Haarbüschel auf einem unförmigen Wollhaufen vor
mir saß, wie eine zusammengefallene Vogelscheuche.
„Wenn du es mir nicht sagen willst, was willst du dann von mir?
Warum bist du hier?“
Wieder  hob  sich  der  Kopf  und  er  sah  mich  im  fahlen  Licht  an.
Senkte  erneut  den  Kopf.  Geschlagen.  Aber  er  würde  nicht  ant-
worten.
Was blieb mir? „Gut, dann melde ich dich beim Herrn Pfarrer.“ Ich
stand schwungvoll auf und marschierte auf die Tür zu, die Zähne
vor der Kälte zusammenbeißend.
Sofort warf er seine Decke ab. „Nein! Bitte nicht! Bitte!“
Ich  drehte  mich  um.  Sah  ihn  streng  an,  wie  Mutter  es  bei  den
Kleinen manchmal tat — ohne zu sprechen. Es wirkte Wunder.
„Ich …“ Er zögerte, schluckte. „Ich bin Leonard. Leo.“
„Aha.“ Ich kam langsam zurück, mied aber diesmal das einladen-
de Bett. Ich hockte mich vor ihn hin. Wollte ihm eine Hand auf die
dünne Schulter legen, aber in seine Augen trat eine monströse
Panik. Er rutschte weg von mir und unter das Fenster.
Ich wartete, dachte nach. Wo konnte er her sein? Warum war er
so herzerweichend ängstlich? So ungepflegt und ungelenk? „Ich
bin Mathilda. Tilda. Ich arbeite seit heute hier für den Pfarrer.“
Kurze Pause, dann seine dünne Stimme, wie ein Windhauch vom
Fenster. „Welcher Pfarrer?“

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