TEILEN

Ich traf Leo unter der Baumgruppe mitten auf der Pfarrwiese. Er musste die Stelle seit gestern schon ein Dutzend Mal nach seinem Ring abgesucht haben. Ich sah mich um, wir waren allein. „Leo, ich bin sicher, du warst gründlich. Sollen wir nicht noch einmal überlegen, ob er woanders sein könnte?“
Er schüttelte heftig den Kopf, seine Augen bohrten sich in meine. „Ich weiß, dass es hier war! Ganz genau. Er kann ein Stück gerollt sein, oder unter Grasbüscheln oder in ein Mauseloch gefallen, aber es war nicht weit von hier. Ich habe alles durchkämmt!“ Er fuchtelte ungelenk um sich.
Ich kniete mich zu ihm. „Wir finden das Ding.“
„Es ist kein Ding. Es ist der Ring. Alles, was ich von meinen Eltern noch habe.“
„Schon gut. Also, wo?“ Ich lächelte ihn friedfertig an.
Er überlegte und zeigte dann etwas Richtung Hang hinter mir.
„In Ordnung.“ Ich krempelte die Ärmel hoch und streckte kurz das Gesicht in die Frühlingssonne. Es war wunderbar draußen zu sein, das war ich viel zu selten und es wurde langsam immer wärmer. Die Bäume ergrünten, Vögel zwitscherten vom Wald her und in den Wipfeln über uns.
Da traf es mich. „Leo. Du bist todsicher, absolut sicher, dass es hier war? Niemand kann zufällig hier auf ihn gestoßen sein, die Wiese wird noch nicht genutzt. Also …“
„Was?“ Er funkelte mich ungeduldig an.
„Also da.“ Ich zeigte hoch.
„Wie bitte?“ Er legte die Hand über die Augen und sah nach oben.
„Eine kleine Chance. Vielleicht ist da oben ein Nest. Krähen oder Elstern. Sammeln die nicht gern glitzerndes Zeug? Könnte doch sein.“ Ich fand die Idee selbst nicht überzeugend, aber meine Mutter hatte öfter gesagt, dass Elstern und Krähen Diebe seien und alles klauten und in ihre Nester trugen, was glänzte und nicht niet- und nagelfest war.
Leo sah mich an, als hätte ich einen Sonnenstich. „Im Ernst?“
Ich musste lachen, wohl auch über meine etwas abenteuerliche Idee. „Warum nicht mal nachgucken? Siehst du ein Nest?“
Er sah hoch. „Ich glaube schon. Zwei mindestens.“
„Ist ja auch schön hier. Und wann findet man schon einmal so ein hübsches Dekorationsobjekt.“ Ich stand auf und klopfte mir den Rock ab. „Also. Wer geht?“
Er blieb hocken, wo er war. „Ich kann nicht gut klettern. Du musst.“
„Gut.“ Ich sah hinauf und schätzte meine Route ein.
Leo sah skeptisch aus, aber das hielt mich nicht ab. Endlich durfte ich mal wieder Kind sein. Spaß haben, nicht funktionieren. Es war mir fast egal, ob da oben etwas lag, Hauptsache ich durfte klettern und frei sein. Ich griff nach den ersten Ästen und zog mich hoch.
Leo stand auf.
„Was machst du?“, fragte ich ihn über die Schulter.
„Ich gehe in der Zeit da drüben weitergucken. Da war ich noch nicht.“ Er zeigte zum Gebüsch, das sich nach Westen um die Bäume zog. „Oder brauchst du Hilfe?“
„Von dir?“ Ich lachte. „Wohl kaum, du dünnes Hemd.“
Er hinkte los und wurde bald vom Blattgrün verschluckt.
Inzwischen war ich schon relativ weit oben und steuerte langsam auf das erste Nest zu. Es war recht groß und konnte wirklich von einer Krähe sein. Ich zog mich näher heran und kam zu Ästen, die gefährlich schmal wurden. Aber es war zu schaffen, sagte ich mir, nur noch einmal langen Arm machen … Und ich landete gegenüber vom Nest. Es sah unaufgeräumt aus, aber war wohl bewohnt, Federn und Kot lagen am Rand. Ich spähte atemlos hinein, sicher, einen Schatz zu finden. Vorsichtig schob ich mit dem Finger die dünnen Zweiglein auseinander, aber ich wurde enttäuscht. Das Nest enthielt kein Diebesgut, und schon gar nicht Leos wertvollen Ring. „Verdammt“, murmelte ich und sah mich um, ob er mich beobachten konnte. Ich hätte ihm so gern den Ring gebracht. Dann knackte es unter mir.
Ich erstarrte und griff panisch nach Ästen. Der Baum schwankte leicht, gab aber nicht nach. Ich atmete aus. Mein Herz schlug mir in der Kehle. Es wäre wirklich ein Witz, wenn des Pfarrers neue Haushälterin beim Sturz aus einem Baum ihre Arbeitskraft einbüßen würde. Meine Füße tasteten sich abwärts und ich glitt langsam tiefer, zitternd, aber lebendig.
„Kann ich dir helfen?“
Ich riss die Augen auf und blieb hängen, wo ich war. „Was?“
„Sieht nicht aus, als ginge das gut.“ Unser Knecht Reinhard stand unter dem Baum, ziemlich genau senkrecht unter mir, und starrte schamlos hinauf. Er sah nicht hilfsbereit aus. Eher amüsiert. Auf eine Art, die mich abstieß, wie immer bei ihm. Ich zog die Beine an, soweit es ging, meine Wangen glühten vor Anstrengung und Wut. „Ich komme klar, danke!“ Wo war Leo? Er durfte keinesfalls dem Knecht in die Arme laufen! Ich sah nicht zu der Stelle, wo ich den kleinen Kerl vermutete, und sagte stattdessen zu Reinhard: „Ich komme herunter, aber Sie machen besser Platz. Falls ich falle.“
Er schüttelte grinsend den Kopf. „Im Gegenteil. Für diesen Fall bleibe ich genau hier.“ Er breitete die Arme unter mir aus und ich konnte schlecht hier oben hocken bleiben.
Langsam begann ich meinen Abstieg und sah nicht mehr nach unten oder wohin er starrte. Es ging gut, und ich saß bald auf dem untersten Ast. Reinhard wartete mit ausgebreiteten Armen. Ich wollte das nicht. Aber er ging auch nicht weg. Also sprang ich einfach und obwohl ich gut landete, griff er natürlich nach mir und hielt mich fest. Seine Hände auf meinen Hüften waren zu grob und wanderten aufwärts, und ich stolperte seitwärts, weg von ihm.
Er ließ mich endlich los.
Ich starrte ihn an, wütend und angeekelt. Seine Hände brannten immer noch auf mir. Warum mussten Männer einen immer anfassen? Mein Blick schoss nach rechts, wo Leo sein musste. Aber ich sah nichts als Grün.
Reinhard sah mich intensiv an. „Ich will nur, dass du dir nicht weh tust.“
„Waren wir nicht beim ‚Sie‘?“, funkelte ich ihn an.
Er schüttelte langsam den Kopf, ein Mundwinkel zog sich nach oben. „Du. Ich nicht.“ Er bewegte sich nicht, stand nur da, als wäre er noch nicht fertig. „Was hast du da oben gemacht?“
„Das geht Sie nichts an.“ Ich versuchte, standzuhalten.
„Ich habe etwas gefunden. Da vorne.“ Er deutete ein Stück hinter uns, wo die Wiese abschüssig wurde. „Hat mich angeleuchtet. Kann der vom Herrn Pfarrer sein?“ Seine süffisante Stimme verriet, dass er das nicht glaubte, und eine effektvolle Reaktion von mir erwartete. Er hielt die grobschlächtige Hand auf.
Leos Ring.
Ich schnappte nach Luft und schoss vorwärts. Leider instinktiv und zu schnell, als dass meine Vernunft mich hätte bremsen können. „Gib her!“
„Hast du den gesucht? Da oben? Ernsthaft?“ Er lachte mich aus.
„Nein! Ich wollte nur … ich kenne den Ring und kann ihn zurückgeben.“
„Ha. Das kann jeder behaupten. Sieht teuer aus.“ Er strich über den dicken Edelstein.
Ich wurde rot vor Wut. Wenn Leo uns noch beobachtete, dann würde es wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, bis er angeschossen kam und Reinhard an die Gurgel sprang. „Du kannst ihn nicht behalten! Du hast selbst gesagt, dass du ihn nur gefunden hast!“ Ich ballte die Fäuste und wäre am liebsten auf ihn losgegangen.
„Jetzt sagst du auch ‚du‘“, stellte er befriedigt fest. „Wir bleiben beim ‚du‘, was meinst du?“ Dabei winkte er mit dem Ring. „Sag ja.“
Ich biss mir auf die Lippen und brachte keinen Ton heraus.
Er nahm den Ring in die linke Hand und schob ihn sich aufreizend langsam über den rechten Ringfinger. „Passt.“
Ich erstarrte. „Das … das kannst du nicht machen! Er gehört dir nicht!“ Ich schoss vorwärts und auf ihn los, aber er hob den Arm und ich stolperte ins Leere. Dabei lachte er. Ich fing mich schwer atmend und wirbelte herum. „Er gehört dir nicht! Ich habe ihn gesucht!“
„Im Baum?“ Er lachte wieder laut, so als wäre das völlig hirnrissig, was es ja vielleicht sogar war. „Keiner sucht im Baum nach Ringen. Er gehört dir also auch nicht“, stellte er fest. „Viel zu groß ist der. Mir passt er.“
Ich sah rot. Er konnte doch nicht an seinem ersten Arbeitstag einen Ring stehlen! Den Ring, der alles war, was Leo von seinem früheren Leben geblieben war! Ich stolperte durchs hohe Gras auf ihn zu. „Gib ihn her! Gib ihn mir!“
Er lachte und wich mir mühelos aus. „Sag bitte!“
Wir tanzten auf diese merkwürdige Art eine Weile über die Wiese. Er schien Spaß an meiner Verzweiflung zu haben. Irgendwann schossen mir Tränen in die Augen, ich sank zu Boden und blieb wie ein Häufchen Elend liegen. Es hatte keinen Sinn. Er war größer und stärker und vor allem herzloser. Er genoss es.
Der Knecht blieb dicht vor mir stehen und sah auf mich herab. „Du kannst ihn mir nicht abnehmen. Wie willst du beweisen, dass es deiner ist? Er passt mir.“ Damit hielt er mir Leos Erbstück vor die Nase und zog dann triumphierend die Hand wieder weg. „Ich passe erstmal darauf auf.“
„Was?“ Ich versuchte wieder auf die Füße zu kommen, aber er war schon ein ganzes Stück den Hang herunter, bis ich endlich atemlos da stand. Er winkte über seine Schulter zurück und steckte dann beide Hände tief in die Taschen.
Leos Ring, sein ein und alles und letzte Verbindung nach Hause, marschierte am Finger eines skrupellosen Idioten davon. Unerreichbar.
Ich heulte auf.

TEILEN