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Ich lag einsam und nachdenklich unter meiner Bettdecke und fragte mich, wo der kleine Leo blieb. Ich wollte ihm berichten, dass sein Ring beim Pfarrer zur Aufbewahrung lag. Der Knecht hatte ihn aus Angst vor der Rache der Juffer abgegeben. Leo konnte also aufhören, die böse Juffer zu spielen und das ganze Dorf zu ängstigen.
Ich war gerade eingedöst, als die Kammertür knarrend aufgeschoben wurde. Ich lauschte. Die Schritte waren schwerer als üblich. Meine Augen sprangen auf, ich drehte mich um und sah einen riesenhaften Umriss mitten im Zimmer. Ein Mann. Ein ausgewachsener Mann mitten in der Nacht in meiner einsamen Dienstbotenkammer. Wie erstarrt sah ich ihn näherkommen. Er blieb vor meinem Bett stehen und es wurde klar, wer er war: Reinhard, der Knecht.
Sein Gesicht war zu dunkel, um daraus eine Absicht zu lesen, aber er zischte: „Ich wusste, dass ich Recht habe. Dass du die Juffer bist, dämliche Ziege. Du meinst wohl, du könntest mir Angst machen. Dein Herr Pfarrer wird sehr erstaunt sein. Wie konnte er nur seine rechtschaffene Magd verteidigen. Tilda, Tilda.“ Er kniete sich vor mein Bett und kam näher, viel zu nah.
Ich geriet in Panik und schlug nach ihm. Er hielt mich fest und ich trat aus. Er ließ los und ich rutschte nach hinten an die Wand. Was hatte er vor? Was wollte er von mir? Er redete soviel Unsinn, dass mein Hirn sich verweigerte. Leo spielte doch Juffer, nicht ich. Und Leo war für alle unsichtbar.
Es sah aus, als stiege Reinhard aufs Bett – und etwas klickte in meinem Kopf. Ich zog Leos aktuellen Lesestoff unter der Decke hervor und knallte ihn gnadenlos in sein Gesicht. Ohne abzubremsen.
Reinhard fiel rücklings vom Bett. Ich holte erneut aus und als er sich berappelte, mit einer frisch blutenden Nase ausgestattet, schrie ich lauthals los. Er war nicht nur hier, um Beweise für seine Theorie zu finden. Er würde mir wehtun. Also brüllte ich, dass die kleine Kammer hallte und das Fenster klirrte. Das hatte Mutter mir mal gesagt. Schreien wirkt.
Das tat es auch in diesem Fall, allerdings etwas anders als gedacht.
Reinhards Hände griffen nach mir und er hielt mir eisern den Mund zu. Ich strampelte und trat. Er grinste mir blutend ins Gesicht und zischte: „Du hörst jetzt besser auf, kleine Hexe. Wo ist die Kutte?“
„Meche Kutte?“ presste ich unter seiner Hand hervor.
Er lachte böse. „Die schwarze vom Pfarrer. Ich habe überlegt. Du warst damit als Juffer unterwegs. Da warst du wohl nicht schlau genug.“
Ich sah ihn mit riesigen Augen an und versuchte, über seinen steifen Fingern Luft in die Nasenlöcher zu ziehen. „Ischa immett.“
Seine Hand ließ los und ich konnte frei atmen. „Wie bitte?“, fragte er.
„Ich war doch im Bett!“, fauchte ich ihn an, plötzlich so unsagbar wütend, dass ich gern noch mehr Blut aus ihm herausgeschlagen hätte.
„Ach so. Du meinst, das sei ein Beweis?“ Er lachte, stand auf und entzündete meine Lampe, die er hochielt, um das Zimmer abzusuchen. Ich suchte mit, in der Hoffnung, dass Leo keine Hinweise auf sich hinterlassen hatte.
„Wo hast du die Kutte versteckt? Weiß Hochwürden, dass du seine Sachen einfach klaust? Und wofür du sie missbrauchst?“ Er hielt mir das Licht mitten ins Gesicht, die Flamme erreichte fast meine Nase.
„Ich habe keine Kutte versteckt, weder hier noch sonstwo! Hast du vergessen, was der Pfarrer gesagt hat? Dass ich es gar nicht gewesen sein kann! Ich war IN der Kirche, als die Juffer auftauchte und es über uns läutete!“
Sein Mund wurde hart, die Kiefer mahlten. Er wischte den Blutstreifen von der Oberlippe und sah mich an. „Du willst es wohl nicht anders.“ Seine veränderte Stimme schockierte mich mehr als die zwei schnellen Schritte, mit denen er am Bett stand. Er hielt mich mühelos fest. Ich konnte nicht schreien, zuerst weil ich schreckstarr war, und dann weil er mich herumwarf und in die Kissen drückte. Meine Lunge wurde eng im Versuch, genug Luft aus den Kissen zu saugen. Er lag mit seinem ganzen Gewicht auf mir und zerrte an mir. Ich zappelte und strampelte.
Und plötzlich, völlig sinnlos, schrie Reinhard auf.
Er ließ mich mit einem Brüllen los, das mich halb taub machte und völlig verwirrte. Er war runter von mir und ich schlang die Arme um den Körper. Ich hörte, wie er vom Bett stürzte und drehte mich langsam um. Was ich dann sah, war geradezu surreal.
Reinhard stand, eine Hand in seinem Nacken und die andere zur Faust geballt, mitten im Zimmer. Er tanzte merkwürdig hin und her und keuchte: „Was war das denn? Was hast du gemacht? Verdammte Scheiße, du hast mich verbrannt!“
Dann sah ich die dünne Rauchfahne, die merkwürdigerweise von seinem Nacken aufstieg.
Und ich sah Leo.
Das dünne Kerlchen stand diesem Riesen gegenüber, als würden sie David und Goliath für mich aufführen. Er hielt die Lampe in der Hand und schwenkte sie langsam hin und her, wie zur Besänftigung eines wilden Tiers. Er hatte sie dem Knecht wohl in den Nacken gekippt. Das nahm dieser übel und er brüllte los, dass Leo wankte. Dann stürzte sich der Knecht auf ihn.
Leo flüchtete humpelnd und strauchelte, als Reinhard ihn am Hemd erwischte. Er hatte die Kutte zum Glück nicht mehr an, sondern nur sein verschlissenes Hemd und die von mir dutzendfach geflickte Hose. Er riss sich los und steuerte eiernd aufs Fenster zu, anstatt zur Tür, was ich merkwürdig fand. Dann gab sein schlimmes Bein nach, und ich wusste, er hatte keine Chance. Leo sackte zusammen und war eingekeilt zwischen Fenster, Schrank und Bett. Das Gepolter war ernorm und ich fragte mich kurz, wo der Herr Pfarrer blieb. So fest konnte kein noch so gewissensreiner Pfarrer schlafen. Ich schrie so laut ich konnte, brüllte was meine zugeschnürte Kehle hergab. Kurz hielt Reinhard inne, dann fluchte er und tauchte vor mir auf.
Leo war weg. Er hatte ihn nicht in den Armen.
Dann begriff ich. Der Kleine war dürr genug, unter dem Bett Schutz zu finden. Er war Reinhard in letzter Sekunde entwischt. Reinhard musste sich entscheiden, ob er jetzt auf mich losging oder den Kleinen herausfischte. Oder ob es nicht doch Zeit war, zu fliehen.
Kurz war der Knecht irritiert. Dann entschied er sich – für Leo. Als er sich hinunterbeugte, um Leo herauszuziehen, griff ich die Waschschüssel. Und als Reinhards Kopf wieder hervorkam, ließ ich sie krachend auf seinem Schädel zerschellen.
Das Klirren war ohrenbetäubend und die Wirkung durchschlagend. Der Knecht sackte auf die Ellenbogen, den Hintern lächerlich in der Luft. Er stöhnte. Ich griff vorsichtshalber wieder nach dem schweren Buch, bereit, ihn zu erledigen.
In diesem Moment ging endlich die Tür auf.

Pfarrer Nußbaum stand in seinem Nachtrock im Zimmer. Er blinzelte ins Dunkle und sah wohl nur diesen deplatzierten Mann und mich bücherschwingende Furie.
Er zog die Tür merkwürdig langsam hinter sich zu und trat interessiert ein. Die Brille hielt er wie ein doppeltes Monokel vor die schlaftrunkenen Augen.
Dann bemerkte Reinhard meine Blickrichtung und drehte sich um. Er erstarrte ganz wunderbar.
Mit einem Krachen knallte ich das Buch doch gegen seinen Hinterkopf, einfach nur, um die Sache zu Ende zu bringen. Die Genugtuung war zu schön, als er schwankend Halt suchte, wo keiner war.
Hochwürdens Gesichtszüge entgleisten erst jetzt. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als ob er erst erst den Knecht und mich zu Ende wanken lassen wollte. Als wir beide in der Lage waren, ihn anzusehen, sprach er müde nuschelnd: „Was ist denn hier los?“ Er nahm die runde Brille ab und setzte sie sogleich wieder auf, ein — wie ich wusste — Zeichen höchster Anspannung. „Sie befinden sich in Frau Blums Kammer, Herr Linz.“
Der Knecht nickte dämlich.
Ich schluchzte wirkungsvoll auf.
Leo unter dem Bett stellte sich tot.
„Ich wüsste gern, was hier vorgefallen ist. Sie haben zu keiner Zeit die Erlaubnis, dieses Stockwerk auch nur zu betreten.“ Pfarrer Nußbaum sprach so leise, dass es dem Zischeln einer gefährlichen Schlange glich. Er betrachtete uns. „Vielleicht sollten wir dieses nächtliche Gespräch besser in die Stube verlegen. Sie kommen mit, Herr Linz.“
Der Knecht folgte ihm zögernd hinaus.
Wir waren wieder allein.
Leos zitternde Gestalt lag zusammengekauert in der hintersten Ecke unter dem Bett. „Du kannst rauskommen“, flüsterte ich. „Du hast mich gerettet, danke, kleiner Held.“
Ganz langsam wagte er es, hervorzukriechen. Dann sah Leo mich nur stumm mit diesen großen, verschreckten Augen an. Diesen Blick hatte er so lange nicht mehr gehabt, ich hatte eigentlich gehofft, diese Panik sei verschwunden. Aber Reinhards Attacke hatte alles wieder hervorgeholt.
Und ich wusste, was er nun tun würde. Es schoss mir plötzlich glasklar in den Kopf.
Er würde sich keinesfalls dem Pfarrer stellen. Er würde warten, bis ich unten war, und dann die Flucht ergreifen. Ohne zu zögern, so weit weg er konnte. Ich sah die Entscheidung in seinen matten Augen, bevor er es aussprach.
„Ich muss weg.“

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