TEILEN

Flohsdorf, Mitte Februar 1880
Unser Waffenstillstand hielt genau bis zu dem Morgen, als ich das erste Mal einen freien Tag hatte — und Leos Fuß aus dem Bett hing.
Ich war zu meinem eigenen Erstaunen im Hellen aufgewacht. Die Sonne schien direkt auf unser kleines Nachtlager. Er lag weit weg von mir, wie meistens. Manchmal berührten sich nachts unsere Füße und er zuckte immer sofort zusammen und zog sich zurück. Es war ein erschreckend übersteigerter Reflex bei ihm. Seine Reaktion war für mich, die immer in einem überfüllten Bett geschlafen hatte, merkwürdig, aber sie funktionierte immer, egal wie tief Leo schlief.
An diesem herrlichen, ersten freien Tag in meinem Leben stand ich also vorsichtig auf, um ihn nicht zu wecken – und sah diesen Fuß. Ich stand im grellen Licht und starrte das deformierte Ding an. Damit konnte er gehen? Wagte sich gar barfuß nach draußen in den Schnee? Ich starrte hemmungslos und mein Magen zog sich zusammen. Sahen etwa beide Füße so aus? Die Zehen waren verkrümmt und übereinander geschoben, die Nägel kaputt, zersplittert, die Ränder rot und entzündet. Die Haut war pergamentartig gespannt und so trocken, dass sie zu Boden rieselte. Mir schauderte.
Ich drehte mich weg, wusch und zog mich an. Ich ließ jetzt immer eine volle Kanne Wasser für den Jungen neben der Schüssel, damit er nie mehr mein Waschwasser trinken musste.
Ich ging nach unten und fand Else in der Küche, wie jeden Morgen. Sie grüßte mich: „Guten Morgen, Tilda! Du hast aber heute frei, ich will dich hier nicht in Bereitschaft haben!“ Sie lachte, aber dann sah sie mein Gesicht. „Was ist los?“
Ich zögerte, überlegte noch meinen Plan. „Kann ich bitte eine Scheibe Brot haben?“ Meine Stimme war belegt.
„Natürlich. Dein Frühstück steht da, aber nimm dir bitte mehr, wenn du magst.“
Ich griff beherzt zu und wie immer wanderte eine Scheibe sofort in meine Schürze für Leo. Else glaubte, sie sei für mich später.
Else setzte sich zu mir, ihre Kaffeetasse in der Hand, und stellte eine zweite vor mich. „Was ist denn los, Mädchen?“
Ich schaute möglichst leidend. „Wahrscheinlich ist Vieles noch ungewohnt für mich. Es zwickt hier und da. Nichts Schlimmes.“ Sie sollte nicht etwa meinen, ich könnte überfordert sein.
Die alte Magd stand auf und griff zum obersten Regalbrett neben dem Herd. „Wenn es so unspezifisch ist …“ Sie drehte sich um: die berühmte braune Flasche! „Hier.“
Ich nahm das Wunderwasser entgegen, das kühle Glas lag beruhigend schwer in meiner Hand. Die schwarze Tinktur gluckerte leicht, als ich die Flasche abstellte. „Vielen Dank. Ich versuche es.“
Else hob den Glasstopfen an. „Sei schön großzügig damit. Es muss eingerieben werden, immer wieder. Wenn alles eingezogen ist, machst du es an den dringendsten Stellen erneut. Ich habe noch mehr davon im Keller, fülle oft ein bisschen ab, wenn ich Leute besuchen gehe. Fast jeder kann es brauchen.“ Sie beugte sich zu mir. „Geheimrezept meiner Großmutter.“
Beeindruckt nickte ich und legte beide Hände um die Flasche. „Ich passe gut darauf auf.“
„Essigsaure Tonerde. Vielleicht zeige ich dir eines Tages, wie sie gemacht wird.“ Sie hob den Finger, die Eisaugen blitzten schelmisch. „Nur deshalb habe ich so lange durchgehalten.“
Ich biss das letzte Stück Brot ab und stand umständlich auf, als täte mir alles weh. Zuckte kurz, wie ich es bei Leo gesehen hatte.
„Oh je, Kindchen. Versuch es damit. Wenn ich dir helfen soll …“
„Nein, nein. Danke. Ich kriege es hin. Es ist ja keine Wissenschaft.“
Wir lachten und ich zog mit meiner Beute davon, die Treppe wieder hinauf.

Als ich ins Zimmer kam, war Leo wach, aber nicht aufgestanden. Ich hielt die Flasche hoch und legte einen Finger auf die Lippen. „Zwei Sachen. Ich habe Else das hier abgeschwatzt. Das ist Wunderwasser. Heilt beinahe alles, außer Knochenbrüche. Und du kannst es genauso brauchen wie ich.“ Ich verzog theatralisch das Gesicht, um ihn auf meine Seite zu ziehen. „Aber …“ Ich zeigte zur Waschschüssel. „Zuerst helfe ich dir, inklusive Haare. Es muss sein, wenn wir ein Bett teilen.“ Ich versuchte wieder mütterlich streng zu gucken — und sah sofort, dass es ihn nicht beeindruckte. „Du musst mir vertrauen“, ergänzte ich und trat langsam auf ihn zu, wie Vater das oft bei verschreckten Tieren tat.
Und Leo schlug nach mir.
Er verfehlte mich, aber seine Augen waren brennende Schlitze und er gab einen merkwürdigen Laut von sich, wie ein Ferkel in Panik. Er stand aufrecht im Bett, genauso groß wie ich und vor Wut zitternd, als hätte ich vorgeschlagen, ihn nackig aus dem Haus und in die Kälte zu werfen. Ich trat weit zurück und versuchte, mich vom Schreck zu erholen. Sein Aufschrei hatte mich mehr getroffen als der Schlag.
Leo gab keinen Laut mehr von sich. Er stand kurz schwankend auf dem weichen Bett und sackte dann wieder in sich zusammen. Stille.
Ich atmete aus. Nun gut, keine Wäsche. Doch eins hatte ich noch vor. Ich zog meinen Rocksaum etwas hoch und stellte den Fuß auf den Hocker am Bett. Nahm die braune Flasche und entstöpselte sie. Ließ etwas von der dunklen Flüssigkeit in meine Handfläche laufen und rieb mir dann das Heilmittel mit kurzen, schnellen Bewegungen auf den Knöchel, rundherum, bis alles braun überzogen war. Ich sah Leo nicht an, aber sagte: „Ich habe mich wohl übernommen, es tut richtig weh. Aber Elses Wundermittel kann alle Leiden verbessern. Ich glaube ihr das.“ Damit stöpselte ich die Flasche wieder zu und stellte sie ab, warf Leo einen eindringlichen Blick zu und verließ den Raum ohne eine Verabschiedung – entschlossen, ab jetzt einen schönen, freien Tag zu verbringen.

Als ich abends in unsere dunkle Kammer trat, sah ich im Schein der kleinen Lampe, dass die Tonerde nicht mehr genau dort stand, wo ich sie gelassen hatte. Ich lächelte breit, froh, dass Leo mein Angebot angenommen hatte.
Als ich ins Bett kroch, war er noch wach, und ließ es mich diesmal wissen. „Was hast du heute gemacht?“ Er sah mich neugierig an und seine Mähne zeigte wie üblich standhaft in alle Richtungen.
Ich setzte mich überrascht auf. „Schön, dass du fragst.“ Ich lächelte breit und anstatt die Lampe zu löschen, zog ich sie auf dem Hocker näher heran. „Ich war im Ort unterwegs. Zuerst in der Kirche, die musst du dir auch mal ansehen, oder warst du schon dort?“
Er schüttelte den Kopf. „Wozu?“
Die Frage verwirrte mich. Man ging eben zur Kirche, weil es eines jeden Pflicht und Freude war. Alle taten es, solange sie konnten. „Weil ich … weil … wo sonst ist man Gott so nah? Du bist bestimmt früher einmal in die Messe gegangen? Unser Herr Pfarrer macht das sehr schön. Er droht nicht. Er erzählt wunderbare Gleichnisse. Ich … Es hilft mir.“ Ich schluckte schwer, irgendwoher war plötzlich das Bild meiner Familie aufgetaucht, wie sie einträchtig in einer langen Reihe vor unserem Haus standen und mir nachwinkten, als ich zum ersten Mal im Leben unser Dorf Richtung Adenau verließ. Ganz allein. Ich atmete tief aus, aber es half nicht. Heimweh und Sehnsucht schnürten mir den Hals ab. Leos neugieriges Starren verletzte mich. Ich sprang aus dem Bett und eilte, wie ich war, aus der Tür und über den engen Flur in die nächste, leere Kammer, wo ich in die eisige, staubige Zimmerecke sank. Ich glaube, ich weinte sehr lange. Ich ließ einfach alles laufen, Rotz und Wasser, es war mir egal, es war keiner hier. Ich war noch nie im Leben so einsam gewesen. Als mein Atem endlich wieder gleichmäßiger kam, putzte ich mein Gesicht ab und sammelte mich.
Ich ging zurück und fand Leo schlafend. Dann schalt ich mich selbst. Wer war ich denn? Der Junge hatte Grund zu weinen, verzweifelt zu sein. Er war nicht nur mutterseelenallein auf der Welt, er hatte scheinbar Dinge erlebt, die ihn hart und aggressiv gemacht hatten. Tiefe Verzweiflung sprach aus seinen brennenden Augen, die oft so plötzlich erloschen, als puste man das Leben aus ihnen. Sein Vertrauen war restlos zerstört, und ich bezweifelte, dass ich da einen Unterschied würde herbeiführen können. Ich war ihm, das verstand ich plötzlich, völlig egal. Und seine lebende Totenstarre hier oben zeigte: Er war sich selbst auch egal.
Er brauchte eigentlich dringend Hilfe, und was er hier oben in der Einsamkeit veranstaltete, war bloß eine erstarrte Flucht. Ich wusste nicht, was er noch verbarg, welche Verletzungen an Körper und Seele er schleppte. Sie schienen ihn im Wortsinn niederzudrücken. Er ging immer gebückt und humpelte, biss permanent die Zähne zusammen. Ich war plötzlich nicht mehr sicher, dass irgendein Wunderwasser ihm Linderung verschaffen konnte. Der ganze, schmale Junge war eine wandelnde, offene Wunde.

TEILEN