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Die Künstlerin Maf Räderscheidt schildert die Nacht, als der Regen kam und als größte Flutkatastrophe im Westen Deutschlands in die Wetter-Geschichte eingegangen ist.
Maf Räderscheidt arbeitet seit rund 50 Jahren als professionelle Künstlerin und glaubte ihre Schätze in Gemünd sicher geborgen. Foto: Sven Nieder

Es hat geregnet, den ganzen Sommer lang regnete es. Immer wieder und immer länger. Die Schildkröten hatten schlechte Laune und verkrochen sich in ihren Häusern, und die Sommerkleider waren im Schrank eingesperrt. So war es an diesem Tag also nichts Besonderes, dass es regnete und regnete und regnete. Die Unwetterwarnungen hatten wir sowieso ständig auf unseren Handys, auch daran waren wir inzwischen gewöhnt.

Doch an diesem Abend regnete es immer weiter, viel mehr, schließlich immer mehr. Es wollte überhaupt nicht mehr aufhören. Ich wollte früh zu Bett gehen, ein Glas Wein trinken, einen Krimi sehen oder etwas lesen. Dann, um 21.50 Uhr wurde es plötzlich dunkel. Draußen rauschte der Regen und innen war auf einmal nur noch Angst. Angst und Sorge. Die Sirenen der Feuerwehrfahrzeuge heulten von Ferne herauf zu unserem Haus auf dem Berg. Immer beunruhigender klangen die Geräusche, die in der nachtdunklen Schwärze zu hören waren.

Im Kerzenlicht war ich nicht glücklich, meine Tochter in Berlin nicht anrufen zu können. Jetzt versagte auch das Handy, das Internet, nichts ging mehr. Ich war alleine. Immer lauter wurde die Stille um mich herum, als das Rauschen zu einem Dröhnen anwuchs. Die bulgarische Hütehündin, wohl hochwassererfahren, begann durchzudrehen und versuchte, mich auf den Dachboden hochzubeißen.

Mein Mann, selbst als Journalist unterwegs, hatte abends heimkehren müssen, weil immer mehr Straßen überflutet waren. Als er kurz vor dem Stromausfall in die Galerie, mein Lager, mein Archiv fahren wollte, um zu sehen ob dort auch alles in Ordnung sei, war für ihn am Verteilerkreis Schluss: Der Weg nach Gemünd war schon geflutet und er musste erfolglos zurückkehren. Heute bin ich dafür sehr dankbar, vielleicht wäre er, wie so manch ein anderer, vom Wasser weg geschwemmt worden.

Die ganze Nacht hörten wir schreckliche Geräusche , ein fast regelmäßiges Krachen und Knallen und Splittern, wenn die Autos von den Parkplätzen gegen die Brücke getrieben wurden, von Baumstämmen geschoben oder Container und Fässer ihnen folgten.

Mit dem ersten Morgengrauen versuchten wir, nach Gemünd zu fahren, um zu sehen, wie es meinen Bildern ergangen war. Durch Schleiden war kein Fortkommen, alle Straßen waren überflutet. Die Schaufensterscheiben der Geschäfte lagen zerbrochen, überall war Schutt, Kies, zerstörte Autos lagen aufeinandergetürmt. Die einzige Möglichkeit für uns war, durch den Wald über den Berg auf vielen Umwegen über die Feldwege nach Gemünd zu kommen.

Dort bot sich uns ein Bild des Grauens. Es stank grausig nach Heizöl, Benzin und Fäkalien. Mein Mann trug mich ein Stück weit durch das Wasser bis zur Brücke. Von dort konnte ich sehen, musste ich sehen, wie alles, was ich mir in 50 Lebensjahren aufgebaut habe, alles was ich je geschaffen hatte, vollkommen verschwunden war, einfach weggeschwemmt,  und an dessen Stelle ein gewaltiges schwarzes Loch in einem Haus klaffte, in dessen Seitenfenstern große Mülltonnen und Öltanks staken.

Maf Räderscheidt vor den Trümmern ihres Ateliers in Gemünd in der Eifel.
Ein Bild des Grauens: Alles, was sich Maf Räderscheid in 50 Lebensjahren aufgebaut hatte, alles was sie je geschaffen hatte, ist zerstört. / Foto: privat

Ich stand an dieser Brücke und hörte mir selbst zu, wie ich zu schreien begann und nicht mehr aufhören konnte. Eine fremde Frau kam und umarmte mich eine Weile, langsam erstarb meine Stimme. Ein kluger Feuerwehrmann lenkte mich ab, indem er mich bat, ihm den Weg zu einem Haus zu zeigen, in dessen obere Etage noch eine Frau auf Rettung wartete. Die untere Etage war ein einziges Chaos, ein Durchkommen war unmöglich. Das Szenario des Schreckens lenkte mich ein wenig von meiner eigenen Verzweiflung ab.

Ich durfte mich sowieso nicht mehr meinem Laden nähern, da wegen eines Gastanks, der mit einem Leck unter einer Brücke verklemmt war, die Umgebung abgesperrt wurde. Die Menschen, die mir begegneten, waren verzweifelt, wir standen uns gegenüber wie erstarrt, fassungslos und weinend. Das war der Anfang einer Zeit, in der uns der Kampf mit dem stinkenden, ätzenden Schlamm, mit unserer zerstörten Existenz und unserer Zukunftsangst vollkommen in Beschlag nahm.

Von hinten war die Urft mit brutaler Wucht in mein Lager eingebrochen, war vorne durch die liebevoll dekorierten Schaufensterscheiben gerast und hat vernichtet oder weggeschwemmt, was ich in meinem Leben geschaffen hatte. Seit 50 Jahren arbeite ich als professionelle Künstlerin, und in Gemünd glaubte ich meine Schätze sicher geborgen. Hunderte von Ölgemälden wurden weggeschwemmt, zigtausende Aquarelle, Zeichnungen und Radierungen, die Daily Paintings, die ich seit zwölf Jahren täglich im Internet poste, aber auch wandgroße Scherenschnitte, Installationen, Bühnenbilder, fertig gepackte Container mit Ausstellungen, schubladenweise Illustrationen zu Büchern und Mappenwerken und einen Grafikschrank mit Hunderten von Radierungen und Kupferstichen, bemalte Tassen und auch Postkarten.

Und auch Bücher: 3000 Exemplare meines Romans „Die Küsse der Farben“, die ich meinem Verleger abgekauft hatte, tausende „Wandervögel“, die „Glücklichbücher“ oder „Mein Land Rheinland“ oder das „Wimmelbuch Nordeifel“ – alles im Wasser und Schlamm verdorben.

Doch auch wenn es mein Lebenswerk war, die Arbeit von 50 Jahren ohne Rast und Ruhe, so steht diese meine Katastrophe nur als eine von vielen neben dem Tod vieler Menschen, vieler Tiere, neben dem Verlust von Existenzen, Träumen und Hoffnungen. Einfach einen Neuanfang zu wagen, im Niemandsland, ohne Möglichkeiten, da fast alles zerstört ist, ist fast ein Unding. Denn auch wenn die Zeit eines Tages die Verzweiflung gelindert haben mag, die Trauer über den Verlust wird bleiben. Was in diesen Stunden geschehen ist, kann von denen, die es erlebt haben, nicht mehr vergessen werden.

Und nichts wird wieder so sein wie früher.

Text: Maf Räderscheidt

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