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Es war zwar offiziell Frühling, aber die Kälte hatte nur unbedeutend nachgelassen. Besonders nachts pfiff immer noch eisiger Wind um das Pfarrhaus, und letzte Woche hatte es einmal geschneit. Leo und ich saßen zusammen in der Stube am Feuer, zum ersten Mal, weil der Herr Pfarrer erst spät wiederkommen würde. Bis dahin musste Leo wieder oben vor ihm versteckt sein.
„Der ist für dich.“
„Was?“ Ich drehte mich um. Leo hielt mir mit einer zitternden Hand etwas hin. „Ein Brief?“
„Mathilda Blum, Pfarrhaus zu Flohsdorf. Soll ich es dir vorlesen?“, fragte er gelangweilt.
„Aha.“ Ich war erstarrt. Was konnte das bedeuten? „Wir müssen auf den Pfarrer warten.“
„Warum das denn? Es ist für dich.“ Er drehte die Rolle hin und her.
Ich stand schnell auf und lief zum Fenster, sah die Straße aber leer. Wahrscheinlich saßen alle gerade beim Totenkaffee bei Winterscheids. Wir hatten etwas Zeit. „Fang an.“
Leo rollte das Schreiben auf. „Das hat ganz schön gelitten.“ Sein Finger strich über Flecken auf dem Papier. „Das kommt wohl direkt über die Matschwege der Eifel. An Fräulein Mathilda Blum … warte … Hier: Liebe Mathilda. Hier schreibt dir Vater mit Hilfe von Jupps Bruder, dem Lehrer aus Mechernich. Wir möchten, dass du dem Herrn Pfarrer sagst, dass alles wieder in Ordnung ist und du natürlich nicht zu uns zu kommen brauchst.“
„Was ist passiert?“, schrie ich und Leo erschrak. Das Blatt glitt aus seinen Händen, die nicht schnell genug reagieren konnten, direkt vor den Kamin.
„Pass doch auf, du verbrennst es noch!“, brüllte ich ihn an, um das Hämmern meines eigenen Herzens zu übertönen. „Hier, nimm! Lies weiter! Oh Gott, das ist von Vater!“
Leo nahm das Blatt und zwang die gerollten Seiten wieder auseinander. „Also … „ Er murmelte wieder vor sich hin, als er die Stelle wiederzufinden versuchte. „Hier steht — da ist ein Schmutzfleck. Aber es geht so weiter: „Am 11. März ist leider unser Jakob von uns gegangen. Er starb im Schlaf …“
„Was? Nein! Nicht Jakob! Nicht mein kleiner süßer …“ Ich wurde plötzlich blind. Etwas Weißes schob sich in mein Gesichtsfeld und ich hörte auch nichts mehr. Fiel rückwärts gegen das Feuerbesteck, spürte aber keinen Schmerz. Ich musste aber wohl schreien, denn Leo rutschte vom Sessel und hatte den Finger auf den Lippen. Er sah mich von oben an und hielt Abstand zu mir. Ich schrie immer wieder „Nicht Jakob! Bitte nicht! Nein!“ Steif beobachtete Leo meinen Ausbruch, aber seine Lippen bewegten sich. Er schien zu sprechen. Ich versuchte ihn zu verstehen und verstummte.
Er las weiter: „Nachdem du weg warst, mussten wir alles in die Hände des Herrn legen. Er ist ruhig eingeschlafen. Bitte bete für ihn.“ Leos Augen rutschten tiefer auf dem Blatt. „Und dann noch: Es ist sehr wichtig, dass du dem Pfarrer zu Diensten bist und dich nicht ablenken lässt. Wir denken an dich. Deine Mutter und Vater.“ Leo senkte das Papier und seine Augen hatten jeden Glanz verloren.
Wir starrten uns an. Ich war sprachlos vor Schmerz und Hilflosigkeit.
„Was hatte er denn?“, fragte Leo tonlos, seine Stimme war verändert, wieder so erwachsen.
„Lass mich in Ruhe“, murmelte ich nur barsch und drehte mich weg, rollte mich auf dem Teppich zum Ball und ließ die Tränen laufen. Leo starrte kurz auf mich herab und hinkte zum Sessel zurück. Dann sah er mir einfach beim Weinen zu.

Als ich ruhiger wurde, verschwand Leo so schnell aus dem Zimmer, dass ich mich fragte, was seine Füße manchmal antrieb und manchmal versagen ließ.
Ich blieb liegen und dachte an unser stilles, kleines Haus. An den Geruch von moderigem Holz und Herdfeuer, der alles durchdrang. Ich dachte an Mutter, die schon soviel Elend und Sorge um die Familie hatte schultern müssen. Kinder starben oft, sagte ich mir, besonders in diesem Teil der Welt und im Winter. Sie wurden fein angezogen, geschmückt und aufgebahrt, und man nahm Abschied – zügig, weil man sich auf das Überleben konzentrieren musste. Die Alten sagten immer, Gott hole die Engel eben zu sich. Und dass er Jakob gerne bei sich hatte, verstand ich gut. Ich sagte mir, dass er nun im Himmel war und es besser hatte als in unserer kalten, feuchten, zugigen Hütte, die ihm das Leben so schwer gemacht hatte.
Über den Flur drang ein Poltern zu mir. Ich drehte den Kopf. „Leo?“
Keine Antwort. Mein Kopf schoss hoch. Leo durfte uns nicht in Gefahr bringen! Würde er entdeckt, konnte das meine Familie gefährden. Wenn der Herr Pfarrer herausfand, dass ich Leo versteckte, würde er mich entlassen. Ich rappelte mich auf.

In der Küche saß Leo in der Hocke auf dem Steinboden. Zwischen seinen nackten Zehen stand ein Steingutbecher. Er sah winzig vor mir aus und hockte da wie ein zerzauster Vogel. Seine wilden Haare verdeckten sein Gesicht, als er konzentriert aber irgendwie eckig einen kleinen Löffel schwang, der ihm immer wieder entglitt. Milchflecken schmückten den Boden.
„Das musst du aufwischen!“ Ich klang wütend und er sah überrascht auf. „Und dann will ich, dass du verschwindest. Ich kann mich nicht einlassen auf das, was du hier unten veranstaltest. Es hängt für mich zuviel daran. Alles, was meine Familie hat, ist meine Stellung hier.“
Seine Augen trafen meine. „Dein Pfarrer würde bestimmt sagen, dein Bruder ist jetzt an einem besseren Ort. Stimmt doch?“ Ich starrte ihn an, wie er da hockte mit dem Becher zwischen den dreckigen Zehen. „Also alles gut. Und deine Mutter ist eine Sorge los. Ein Maul weniger zu stopfen.“
Ich wurde weiß vor Wut und Hitze stieg in mir auf. „Leo …“
„Ich weiß, wovon ich rede. Ein Kind ist nur ein Kind. Vielleicht kriegt sie bald ein neues, gesünderes.“
Ich atmete schwer, versuchte Ruhe zu bewahren und war doch kurz davor, ihn zu schlagen.
Seine großen, zweifarbigen Augen bohrten sich in meine. Er redete einfach weiter: „Ich habe die Gesichter studiert, von den Müttern an der Fabrik. Wie sie die Kleinen am Tor zurücklassen, und die heulenden Bündel müssen jeden Tag um ihr Leben schuften. Wofür? Nur Geld. Entweder Kinder arbeiten und bringen Zubrot, so wie du. Oder sie sind verdammte Klötze am Bein der Ernährer. So wie ich.“
„Das findest du?“, fragte ich leise.
„Das weiß ich.“
Mein Kopf versuchte zu verstehen, was er da sagte. Aber ich konnte es nicht sortieren. Meine Eltern liebten uns Kinder doch … Aber dann traf mich aus dem Nichts eine Erinnerung. Mutter, wie sie eine Decke über ein Baby schlägt. Ich hatte es vergessen, war wohl noch klein gewesen. Das Baby war tot, das ahnte ich damals. War es meine Schwester oder Bruder gewesen? Mutter hatte es bedeckt und war einfach aufgestanden, zum Herd gegangen und hatte gearbeitet. Ihre Miene war ausdruckslos, sie weinte nicht. Sie schippte Asche zusammen. Ich fühlte plötzlich meine kleinkindliche Verwirrung wieder. Sah die Beule unter der Decke, die das tote Kind war. Dann ihre Hände, die tief in der Asche wühlten, und ihre kalten Augen. Sie weinte gar nicht, wirkte nicht überrascht. Ich glaube, ich stand in der Tür zum Herdraum und starrte sie an, das Bett mit der Beule hinter mir. Und Mutter fragte mich, mit Fröhlichkeit in der Stimme: „Was magst du essen?“

Ich realisierte Leos zweifarbigen Blick auf mir und kehrte geistig zurück in die Pfarrküche. Er sagte: „Sie machen einfach weiter.“
Einfach weiter. Decke drauf, Essen kochen. Mutter hatte nie geweint. An Vaters Reaktion oder irgendetwas, was nachher passiert war, konnte ich mich nicht erinnern.
Leo sah weg. „Mach du einfach weiter, genau wie sie. Sei nützlich. Aber ich bin fertig damit. Ich bin schon kaputt, ich nütze keinem mehr. Sie haben mich nicht vermisst und garantiert nie gesucht. Also gucke ich jetzt nach mir.“
Ich war verstummt, weil eine eisige Faust mein Herz umfasst hielt.
Er sah mich hart an. „Der Pfarrer ersetzt dich, sobald du nicht mehr funktionierst. Mich steckt er zu den Nonnen, die dann ihr grausames Spiel mit mir spielen können.“ Er senkte den Blick zwischen seine Füße. „Du solltest wirklich weiter brav dein Geld heim schicken.“
Ich sah plötzlich schwarz, sprang vorwärts und stieß ihn um. „Sei still!“
Er fiel rückwärts auf die Fliesen und trat den Becher um, dass die Milch im hohen Bogen die Wand besudelte. Sein Kopf stieß an das Tischbein und er zuckte zusammen, rollte sich dann blitzschnell ein und blieb als Ball auf der Seite liegen. Er hatte die Augen fest geschlossen und lag stocksteif da. Nur seine Zähne klapperten laut.
Ich sah ihn verzweifelt an, raufte mir die Haare, sah seine Füße an und wie krumm sie waren und zählte zwei Zehen, die nicht da waren, wo welche hingehörten. Es tat mir alles sofort Leid. Ich stöhnte auf und flüsterte: „Entschuldige, Leo.“
Schwer wie Blei erhob ich mich, um einen Lappen und Wasser zu holen. Keinesfalls durften Else oder der Pfarrer ahnen, was hier vorgefallen war.
Leo blieb wie tot liegen, während ich um ihn herum stumm die Milch vom Boden und der Wand wischte.
Doch dann hörte ich ihn leise in seinen Ellenbogen murmeln: „Die war für dich.“

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