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An diesem Morgen war die Kirche sicher voll. Alle würden kommen, um zu hören, was der Herr Pfarrer dazu zu sagen hatte, dass unser Knecht Reinhard den Dorfjungen Jasper, Bauer Rissers Sohn, verletzt hatte. Nicht oft kam es vor, dass man nach dem Doktor sandte, weil sich zwei Burschen geprügelt hatten.
Die Dorfseele würde kochen an diesem Tag  – und ich behielt Recht, allerdings auf eine ganz andere Art, als ich gedacht hatte.

Pfarrer Nußbaum stand auf der Treppe zum Altar.  Sein Gewand sah etwas zerknitterter aus als sonst und die Stola war schief. Ich begann, mir leichte Sorgen zu machen.
Die Gemeinde sang aus voller Seele und ihr Hirte schien sich etwas zu entspannen. Er trat zum Altar, während sich alle erwartungsvoll wieder setzten. Was würde Hochwürden sagen?
Es war mucksmäuschenstill.
Und dann fiel der Tischler Hauser ein. Die Kirchentür sprang plötzlich auf, alle Köpfe drehten sich, Zischen und Ausrufe der Verwunderung, dann stolperte eine schmutzige, kugelige Gestalt ins Gotteshaus, dessen Besucher kollektiv den Atem anhielten und starrten.
Die Tür war weit offen, schwang aber wie von Geisterhand langsam wieder hinter dem Eindringling zu. Verärgert ließ Hochwürden die Arme sinken.
Panisch quiekte Hans Hauser mit weit aufgerissenen Augen: „Ich habe sie gesehen!“
Die Gemeinde starrte.
Hochwürden trat vom Altar weg und wandte sich dem zitternden Tischler am Portal zu. „Was haben Sie gesehen? Können wir das nachher besprechen?“
Der Tischler zitterte.
Es wurde totenstill. Einige hüstelten, nervös oder missbilligend.
Herr Hauser verstand nicht. Er war zu beschäftigt damit, seine Kleidung wieder zu sortieren, fuhr sich nervös durchs Haar, sah wie verfolgt hinter sich und umher. Als er endlich die starrenden Augenpaare der versammelten Gemeinde auf sich bemerkte, stolperte er zurück, bis er an die Kirchentür stieß, die sofort nachgab und ihn auf dem Rücken landen ließ.
Einige junge Burschen lachten auf, was leise Schelte ihrer Eltern nach sich zog. Alle blickten zur jetzt wieder offenen Kirchentür, durch die die zappelnden Beine des Herrn Hauser ragten, als habe Gott selbst ihn am Eingang niedergestreckt.
Hochwürden konnte es nicht länger mitansehen und marschierte zu ihm, um ihm aufzuhelfen. Einige Männer aus der ersten Reihe sprangen ihm bei. Ein kleiner Tumult brach los.
Man sah Hochwürden nur von hinten, seine Stola flatterte im Frühlingswind. Tischler Hauser war wieder dabei, seine Kleidung abzuklopfen, wobei er haltlos plapperte. Dann drängte sich die Kräuterfrau vor.
Was gesprochen wurde, verstanden wir drinnen nicht. Vögel zwitscherten, als sei nichts geschehen, dann wurden die Stimmen draußen lauter. Die dunklen der Männer wurden von der schrillen der Kräuterfrau übertönt: „Hier gibt es keine Juffern!“

Alle hatten es gehört, und alle hielten den Atem an. Juffern. Ich kannte nur vage Erzählungen. Zu Hause war die nächstgelegene Geistererscheinung die in der Kindshardt, einem Waldgebiet bei Kall, wo die feenhaften weißen Gestalten umgehen sollen. Man durfte sie niemals ansprechen, wenn sie am Urftbach saßen, denn ‚Es war um den geschehen, den sie erblickten.‘ Mir schauderte, und auch Frau Arzen hatte die Hand vor den Mund geschlagen, ihre riesigen Augen starrten darüber hervor. Ich hörte sie zwischen ihre Finger murmeln: „De Lück wore all bang vüe se …“, was ich als ‚die Leute hatten alle Angst vor ihnen‘ verstand, und es schnürte mir die Kehle weiter zu. „Dann isser bald tot“, ergänzte sie noch mit einem Nicken zu Hauser, bevor sie die Augen schloss und sich bekreuzigte, ohne die andere Hand herunterzunehmen.
Ich wusste, dass ein Geistlicher Juffern bannen konnte, oder erlösen, wie meine Mutter uns einmal erklärt hatte, als es wieder einen Bericht von weißen Gestalten im Kaller Wald gegeben hatte, bei der versunkenen Stolzenburg. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es wäre, von den geisternden Jungfern überrascht oder verfolgt zu werden, wie es offensichtlich gerade Hauser passiert war.
Der Herr Pfarrer trat wieder in die Kirche, er schob den wirr redenden Tischler vor sich her und zur ersten Bank, wo eilig für ihn Platz gemacht wurde. Hochwürden nickte dankbar und wandte sich wieder zum Altar. Bestimmt war er dem Mann mit gelehrter Vernunft gekommen, um die Geister zu vertreiben. Es war ja immerhin hellichter Tag — da geisterten selten Juffern herum. Und auch nicht mitten im Dorf.
Gott oder der Wind schlug in dem Moment die schwere Tür wieder zu, es wurde dunkler und der laute Knall ließ die gesamte Gemeinde zusammenfahren.
Pfarrer Nußbaum strich seine Stola glatt und räusperte sich laut. Er hob mahnend die Hände und wollte zu sprechen beginnen – da geschah etwas noch Unfassbareres als des Tischlers Geistererscheinung.
In dem Moment, in dem Hochwürden die Arme ausbreitete, wurden seine ersten Worte übertönt. Von  ganz oben. Weit über uns. Als würde Gott selbst ihm wieder dazwischenfunken.
Hoch oben im Turm begann plötzlich die Glocke der alten Kirche von selbst zu läuten.

Der Rest des Gottesdienstes ging endgültig in Erstarrung, Geschrei und panischer Flucht unter.
Das entgleiste Gesicht meines Pfarrers war Beweis genug: hier waren übermächtige Kräfte am Werk. Die Flucht der gesamten Gemeinde durch die viel zu enge Kirchentür wurde übertönt vom dumpfen Schlagen des Klöppels hoch über uns im Turm.
Ich stolperte aus der Bank und auf den Herrn Pfarrer zu, der wie erstarrt nach oben sah.
Die Meisten hatten es endlich hinaus geschafft. Es gab kein Halten mehr, alle stoben davon wie eine Schafherde im Angesicht des Wolfes, quer über den Kirchplatz, teilweise sogar zwischen den Gräbern durch. Einige drehten im Laufen die Hälse nach oben, wo die wild pendelnde Glocke mit Sicherheit gut zu sehen war.
Pfarrer Nußbaum war leichenblass. Trotzdem schaffte er es, die Brille abzunehmen und automatisch an seinem Gewand zu reiben. Ein Mann wedelte in Richtung des Turmaufgangs, aber er machte keine Anstalten, der Sache auf irdische Art nachzugehen.
Und dann trat plötzlich Stille ein.
Das Geläut verstummte, hallte nach, und ließ uns alle bis aufs Mark erschüttert zurück.
Wir standen reglos in der nun leeren Kirche. Die Bänke waren verschoben und standen schief im Raum. Einige Damen hatten in Panik ihre Schals oder Hüte vergessen.
Da knarrte plötzlich hinter uns eine Tür. Alle fuhren zusammen, auch der Herr Pfarrer.
Der junge Organist Lenz steckte schüchtern den Kopf in den Altarraum. „Was … war das denn?“, stammelte er und sah sich um, als könnte der Glockengeist jederzeit wieder in Erscheinung treten.
Pfarrer Nußbaum wachte aus seiner Erstarrung auf. Er drehte sich langsam zu ihm um und sagte schleppend: „Das, mein lieber Herr Lenz, war unsere Glocke.“

Wir folgten Hochwürden, der in den Kirchhof eilte. Er sah genauso fassungslos zum Glockenturm hoch wie zuvor seine fliehenden Schäfchen. „Ich weiß wenig über Juffern. Der Herr Hauser war ehrlich und zutiefst geschockt. Zuerst habe ich versucht, ihm das als Täuschung zu erklären, es ist doch heller Tag! Aber dann …“ Er winkte schwach in Richtung Turm, und wir alle nickten.
Plötzlich fuhr der Organist zusammen und wir drehten uns um. Hinter uns war die Kräuterfrau aufgetaucht. „Die Glocke kann niemals von allein losläuten! Niemals! Herr Pfarrer, es kann nicht anders sein! Nur Juffern können die Glocken läuten lassen, ohne sie zu berühren. Sie ist es! Der Hauser hat Recht!“
Mein Atem stockte, mir wurde eiskalt.
„Meine liebe Frau Waas …“, begann der gebeutelte Geistliche, aber sie unterbrach ihn und zischte: „Sie allein können den Bann brechen! Wer weiß, was sie umtreibt, und ob sie Erlösung braucht …“
Der größere der nun blassen Männer schaltete sich ein. „Keiner darf sie ansprechen! Wer das tut ist …“ Sein Finger fuhr über seinen Hals und mir wurde schlecht.
Die Kräuterfrau raffte den Rock. „Manche sind sogar Aufhockerinnen!“
„Was?“, rutschte mir raus.
„Die hocken sich auf ihr Opfer und drücken es nieder, bis es vor Erschöpfung sofort oder bald danach stirbt …“
Die drei Männer bekreuzigten sich reflexartig.
Der Pfarrer fragte: „Aber gilt das für alle Juffern? Dass ein Geistlicher sie erlösen kann?“ Er richtete sich etwas auf und rückte die Brille gerade, bereit, diese Herausforderung anzunehmen. „In Sinzig habe ich zwar nicht mit Juffern zu tun gehabt, aber sie können doch freundlich sein, friedfertig. Die weißen Juffen jedenfalls, soviel weiß ich. Aber geht das auch mit schwarzen?“
„Meinen Sie etwa … war es keine weiße Juffer? Aber das wäre ja …“ Die Kräuterfrau wich zurück.
Jetzt wurden auch die Männer blass. Alle starrten den Pfarrer an.
Der kam endlich zum Punkt: „Herr Hauser sagt, seine Juffer war nicht weiß. Sie war eindeutig schwarz.“

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