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Das nächste Mal sah ich Leo in der Stube, als der Herr Pfarrer zu einer Familie gerufen worden war, in der ein Kind erkrankt war. Eigentlich wollte ich zum Keller, als ich Leos Haarschopf hinter der Sessellehne hervorlugen sah. Er hatte sich einen großen Stapel der schwersten Bände vor die Füße gelegt. Ich bremste und trat ein. Er sah nicht auf, sondern murmelte nur: „Stör‘ mich nicht.“
Ich zuckte die Schultern. „Dir ist klar, dass der Herr Pfarrer jeden Moment kommen kann? Oder Reinhard, wenn er etwas braucht?“
„Der kommt nicht mehr.“
„Wie bitte?“
Er sah auf. „Unser beliebter Knecht ist von Bauer Risser eingespannt worden. Spätkartoffeln.“
„Oh. Woher weißt du das?“
Er tippte auf seine ausladenden Ohren. „Heute Morgen hing ich aus dem Fenster …“
„Bitte?“ Ich stemmte die Hände in die Hüften.
„Du machst wieder dieses Große-Schwester-Ding“, stellte er belustigt fest.
Ich schnaubte.
„… Und hörte zufällig den Reinhard lautstark reden. Der kann nur laut, kann das sein?“ Er verzog das Gesicht.
„Und der Herr Pfarrer?“
„Er leiht ihn quasi aus. Die Spätkartoffeln müssen in die Erde und sie brauchen jede Hand. Wir haben ja keine Felder zu beackern.“
Ich fand es immer amüsant, wie er von ‚wir‘ sprach, als gehörte er ganz offiziell zum Haushalt. Für mich tat er das, aber der Herr Pfarrer wusste noch immer nichts von dem heimlichen Untermieter in seiner Dachkammer.

Leos Miene verdunkelte sich plötzlich. „Was ist, wenn der Idiot meinen Ring in den Ackerfurchen verliert? Der ist allen Ernstes mit dem Rubin aufs Feld! Den kriege ich nie wieder!“
„Er weiß doch gar nicht, wie wertvoll dein Ring ist. Vielleicht ist es nur eine blöde Trophäe für ihn, um mich zu ärgern. Die er ablegt, wenn keiner guckt.“
„Dann werde ich mal nachgucken“, stellte er fest und knallte das Buch zu, dass es nur so staubte. ‚Sagen der Eifel‘ war mal wieder dran gewesen. Es rutschte zu Boden, bevor ich zugreifen konnte. Leo rutschte hinterher und humpelte in seiner schrägen Art zur Tür. Er reckte den Hals um die Ecke, ob die Luft rein war, und eierte weiter zur Treppe.
Ich hatte mich gefangen und rief ihm nach: „Du willst was?“
Aber er antwortete mir nicht mehr.

In der Küche bereitete ich gerade das Mittagessen zu, als plötzlich krachend die Hintertür zufiel. Ich zuckte zusammen.
„Er hat ihn mitgenommen!“ Wutentbrannt funkelte mich Leo unter seinen immer länger werdenden Haaren an, die Hände hatte er in die schmalen Hüften gestemmt.
Ich musste auflachen. „Jetzt machst du das Große-Schwester-Ding!“
„Nicht witzig! Er hat meinen Ring mit auf dem Feld, einfach so, vor allen Leuten! Auf die Gefahr hin, dass er ihn verliert, zerkratzt, zerstört!“
Ich guckte ernster. „Wenn er so wertvoll ist, wie du sagst, dann ist er auch entsprechend stabil. Der fällt nicht sofort auseinander.“
„Meinst du? Und der Dreck? Der Rubin?“
Ich dachte nach. Natürlich wäre es schlauer gewesen, das Schmuckstück sicher zu verstauen.
Er sank auf den Schemel hinter der Küchentür, der sein Stammplatz geworden war, wenn wir allein waren. „Er legt ihn scheinbar nie ab.“ Leo raufte sich die dreckigen Haare.
„Uns fällt schon was ein. Und heute Abend wasche ich dich“, drohte ich ihm spontan. „Du verfilzt noch!“
„Ich kämme doch!“
„Na immerhin. Aber heute ist Samstag. Waschtag für kleine Löwen.“
„Du bist nicht meine Schwester!“
„Du bist ein Dreckspatz – guck dich an!“
Er sah an sich hinunter. Sein Hemd war löchrig und die Haut mit Staub und Dreckkrusten überzogen. „Gut, gut. Ich gehe hoch. Ich mache es am Waschtisch — und nein, du sollst mir nicht helfen. Ich kann das.“
„In Ordnung.“ Ich grinste breit. „Und wenn du fertig bist, bring dir ein Buch mit. Du kannst mir Gesellschaft leisten. Ich muss kochen.“ Ich deutete hinter die Tür, in deren Schutz er still lesen konnte, ohne dass der Herr Pfarrer ihn bei einer Stippvisite sehen würde.
„Jawohl, Schwester.“ Damit sprang er ungelenk auf und knickte sofort wieder weg, zog das Bein nach und wackelte aus der Tür.
Ich sah ihm nach, hörte, wie seine schweren Schritte ihn die Treppe hinaufschleppten und hoffte, dass Leonard irgendwann in der Lage wäre, schmerzfrei zu gehen. Die Furche in seiner Stirn wurde täglich tiefer. Obwohl die Lachfalten es auch wurden … Und das gab mir Hoffnung.
Ich nahm das Schälmesser zur Hand.

Wir saßen einige Zeit friedlich beeinander. Ich am Tisch, schälend und schneidend, heißes Wasser blubberte auf dem Herd. Ich setzte die Pfanne für den Speck auf.
Leo saß im toten Winkel der Tür, die Haare tropften noch etwas, und er balancierte ein Buch auf den Knien. „Soll ich dir was vorlesen?“, fragte er. „Scheint heute ungefährlich zu sein.“
Ich lächelte ihn dankbar an. Ich wollte so gern lesen können. Aber dazu würde es einfach nicht kommen. Ich war angewiesen auf Leute, die mir halfen. So war es einfach. „Das wäre toll, Leo.“
Er lehnte sich gegen die Wand und blätterte um. „Du guckst aber raus, ob er wiederkommt.“
„Ja klar.“ Ich reckte demonstrativ den Hals. Der Kirchhof war leer, die Straße auch. Nur eine Handkarre holperte vorbei, gezogen vom Schmied Harms.
Leo räusperte sich. „Also.“ Er hielt mir den Buchdeckel hin. „Burgen und Schlösser. Ich bin bei der Wildenburg.“
Ich senkte den Kopf und begann, den Speck zu schnippeln. Dann füllte Leos Lesestimme den Raum, die so ganz anders klang als seine Kinderstimme. Erwachsener, überlegter, gelehrter. Er las flüssig und verstolperte sich nie, anders als die wenigen Erwachsenen in Weyerbach, die ich jemals etwas hatte vorlesen hören. Sie hangelten sich gequält an den Buchstaben entlang, als würden diese ihnen ausweichen und Haken schlagen. Leo las ganz anders. Er hob an, wie ich es nur vom Herrn Pfarrer aus der Messe kannte. „Wie du weißt, ging die Eifel ja 1816 an Preußen.“ Er sah mich fragend an.
Ich zuckte die Schultern. Hatte sowas mal gehört.
„Jedenfalls ist die Wildenburg da schon seit dem 12. Jahrhundert erbaut. Sie war Stammsitz der Herren von Wildenburg und später der Grafen von Limburg, bevor das Kloster Steinfeld sie bekam“, fasste er zusammen. „Sie liegt bei Hellenthal, auf einem schmalen Bergrücken zwischen Manscheider Bach und Leiderbach.“ Er hielt mir eine Zeichnung hin, die mir nichts sagte. Seine Augen leuchteten.
„Erzähl‘ weiter.“
Er senkte geschäftig den Kopf. „Die französischen Truppen sind einmarschiert und haben sie zu Nationaleigentum erklärt. Aber —“, er machte eine dramatische Pause, „sie wurde nicht versteigert, sondern der neuen Pfarrei überlassen! Als Kirche und Pfarrhaus!“ Er gluckste fröhlich und wedelte mit der Hand. „Pfarrhaus! Guck mal, Tilda, was das für ein Pfarrhaus ist!“
Ich lachte und kam näher. Starrte auf die Zeichnung, auf der ich aber nur eine Verschachtelung von Gebäuden auf einem steilen Berg erkennen konnte. „Verstehst du das alles?“
„Du nicht?“ Er sah ehrlich überrascht aus.
In mir keimte der Gedanke, dass Leonard von Hellwig viel gebildeter und klüger war, als er selbst ahnte. Er las diese komplizierten Erklärungen und Zeichnungen wie der Herr Pfarrer höchstselbst. Wenn nicht besser. Er erfasste intuitiv alle Zusammenhänge.
„Du solltest etwas draus machen“, sagte ich spontan, die Zunge war mal wieder schneller als der Kopf.
„Woraus?“
„Das. Dein Wissen. Die Bücher, das Lesen. Du bist klüger als die meisten Erwachsenen. Dabei kommst du aus einer Fabrik.“
„Die war nur ein Teil meines Lebens.“ Seine Miene verdunkelte sich und das Lächeln erlosch.
„Ja. Aber irgendwie … dir fällt das alles so leicht. Was willst du tun, wenn du groß bist? Du könntest Gelehrter werden!“
Er schnaubte. „Pfarrer am besten, was?“
„Warum nicht? Du könntest den ganzen Tag Studien betreiben. Wie unserer.“
Er sah mich entsetzt an. „Und predigen? Über einen Gott, der mir Rätsel aufgibt? Zu Leuten, die mich verhöhnen würden wegen meiner …“ Er wedelte zu seinen Füßen.
„So ein Blödsinn. Keiner wird mehr respektiert als der Pfarrer! Und du hättest doch eine lange Kutte an! Alle Füße versteckt! Problem gelöst!“ Ich grinste.
Leo hob die Brauen. „Aber nur in der Kirche. Hier läuft er auch anders herum.“
„Dann werd‘ Lehrer. Oder Mönch“, neckte ich ihn.
„Mönch?“ Er sah mich verständnislos an. „Na klar, Tilda.“ Er senkte den Kopf wieder über das Buch. „Ich werde gar nichts. Ich bin ein nutzloser Krüppel für die Welt da draußen.“
Seine Worte hallten bösartig im Raum nach.
Ich sah nachdenklich aus dem Fenster. „Das sagst du hoffentlich nur so. Leonard von Hellwig.“
Diesmal blieb er mir eine Antwort schuldig.

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